Migranten in Tunesien: Präsident spricht von Verschwörung
Erst nahm sich Tunesiens Staatschef Kais Saied Oppositionelle vor, dann die Migranten im Land. Nun hat er mit einer konfusen Rede nachgelegt.
Seit einer 2015 eingeführten Visafreiheit für mehrere westafrikanische Länder ist Tunesien ein beliebtes Ziel von Studenten aus der Elfenbeinküste, Guinea, Mali oder Senegal. Doch täglich überqueren auch Flüchtlinge und Migranten die Grenze nach Tunesien, um sich vor Entführung und Folter in Libyen in Sicherheit zu bringen. Zwar erhalten nur wenige Afrikaner in Tunesien einen Aufenthaltsstatus, aber fast alle finden Arbeit und eine Wohnung.
Viele Hotels, Restaurants und Betriebe hätten die Wirtschaftskrise der letzten Jahre ohne die meist unter Mindestlohn bezahlten Migranten nicht überstanden, sagt Abir Cherif, die in ihrer Boutique in Tunis zwei Frauen aus der Elfenbeinküste angestellt hat. Doch seitdem die Polizei seit Ende letzter Woche Menschen mit dunkler Hautfarbe festnimmt, verlassen beide das Haus nicht mehr. „Ich hatte gehofft, dass die Verhaftungswelle nach ein paar Tagen wieder endet, denn sie schadet dem Land wirtschaftlich“, sagt Cherif, „aber mit der Rede des Präsidenten wird nun sogar eine neue Welle des Rassismus durchs Land gehen.“
Verhaftungswelle gegen Oppositionelle
In Tunis werden in diesen Tagen Fahrgäste mit dunkler Hautfarbe aus den Straßenbahnen und Bussen geholt und in Sammeltransporten der Polizei in Abschiebehaft gebracht. François Ehouman, ein gewählter Repräsentant von Migranten aus der Elfenbeinküste, berichtet von brutaler Behandlung der Festgenommenen auf Polizeiwachen sowie von Panik unter seinen Landsleuten. „Viele trauen sich nicht mehr aus dem Haus. Wir wissen nicht, ob wir in Tunesien weiter leben können.“
Der 45-jährige Familienvater hatte seinen Plan, nach Europa zu gehen, eigentlich aufgegeben. Als Spielervermittler hat er in den letzten zwei Jahren ein Dutzend westafrikanische Fußballtalente bei tunesischen Fußballvereinen unterbringen können; auch als Spezialist für die Wartung von Klimaanlagen verdient er gut. „Doch ohne Rechtssicherheit habe ich hier keine Zukunft. Die Kampagne der Regierung unterscheidet nicht zwischen Straftätern und der großen Mehrheit der Migranten, die mit harter Arbeit ein normales Leben in Tunesien bestreiten.“
Um der Inhaftierung zu entgehen, schlagen sich viele Westafrikaner in die Hafenstadt Sfax durch. Auf Videos, die im Internet kursieren, erzählen sie von ihrer Angst, auf offener Straße verhaftet zu werden und ihr verdientes Geld abgeben zu müssen. Ein von der taz am Stadtrand von Tunis interviewter 25-Jähriger aus Guinea berichtet, wie Nachbarn zusammen mit Polizisten in seine Mietwohnung eindrangen und ihm alle Wertsachen abnahmen. „Ich könne mir aussuchen, in Abschiebehaft zu gehen oder das Land per Boot zu verlassen“, erzählt er. Er und viele seiner Bekannten suchen nun in Sfax nach einem Platz auf einem Boot nach Italien.
Auch Tunesiens Zivilgesellschaft ist empört über die populistischen Bemerkungen des Präsidenten. Denn nicht nur Migranten hat Saied in seiner Rede ins Visier genommen, sondern auch Aktivisten und Oppositionelle, die seinen autokratischen Kurs kritisieren. Menschenrechtsaktivisten würden die Migrationswellen steuern, behauptete Saied.
Am Wochenende hatte die Gewerkschaft UGTT in acht Städten mehrere Tausend Menschen auf die Straße gebracht. In der Vorwoche waren mehrere oppositionelle Politiker sowie Noureddine Boutarder, Direktor eines beliebten privaten Radiosenders, festgenommen worden. Am Mittwoch folgte ein Haftbefehl gegen Boutarder. Mitten in dieser Krise begannen regierungsnahe Medien, über die vermeintliche Gefahr der Migranten im Land zu berichten, deren Anzahl auf rund eine Million geschätzt wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!