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Gegenwartskunst in Lübeck ausgestelltMr. Mullicans Schatzkammer

Konzept, das auch ignoriert werden darf, und manchmal einfach Trance vor Publikum: Der Possehl-Kunstpreisträger Matt Mullican stellt in Lübeck aus.

Mal monochrom, hier bunt und leuchtend: Matt Mullican, „50 Years of Work“ in Lübeck Foto: Fred Dott

Hamburg taz | Lübeck ist eine stolze Stadt – stolz auf ihre glorreiche Hanse-Vergangenheit und deren Zeugnisse, die dann in ihrerseits an Patina reichen Gebäuden auszustellen sind. Da ist die Kunsthalle St. Annen besonders, als sie sich zwar ebenfalls auf altes, spätgotisches Gemäuer stützt, ihren Blick kuratorisch aber nach vorn richtet, oder nach rechts und links: Ausdrücklich der Kunst nach 1945 verpflichtet ist das Haus seit seiner Eröffnung im Jahr 2003.

Dort ausgestellt zu werden, ist – neben 25.000 Euro – Teil des nochmal jüngeren Possehl-­Preises für internationale Kunst. Das ist folgerichtig: Auch diese erst zweimal (und das alle drei Jahre) vergebene Auszeichnung ist ausdrücklich Gegenwärtigem zugedacht.

Nach Doris Salcedo 2019 ist mit Matt Mullican derzeit noch Preisträger Nummer zwei in der Kunsthalle zu sehen. Alle vier Etagen bespielt der US-Amerikaner mit einer Auswahl aus inzwischen 50 Jahren künstlerischen Schaffens. Spuren in der Stadt hinterlassen hat der 71-Jährige schon eine ganze Weile: Den Sommer über blühte sein „Five Color Garden“ auf der Lübecker Domwiese, eine Anordnung verschiedenfarbiger Blumen nach Mullicans grafischer Vorgabe.

Sein „Five World Chart on Brick“ wiederum zierte bis Mitte November das Dach des Europäischen Hansemuseums – tatsächlich: eine nach Kreide aussehende Zeichnung auf dem ortsüblichen Ziegelstein-Grund.

Matt Mullicans Performance „Under hypnosis. Waking up“, Mitte Oktober in St. Petri zu Lübeck Foto: John Garve/54°

Auch in St. Petri hat er ausgestellt, also unter einem der sieben so sehr hansestädtische Identität stiftenden Kirchtürme: Bis Anfang November war dort unter dem Titel „Church“ eine dreistellige Zahl sechs Meter hoher Leinwände präsentiert, darauf im Prinzip alle seine Arbeit durchziehenden Motive, bloß jeder Farbe beraubt: Frottagen, Abreibungen, grau auf weißem Grund.

Für Freun­d*in­nen des Anzüglichen: Er schmuggelte darunter auch die kein bisschen pornografische Darstellung eines ejakulierenden Penis ins ehrwürdige Gotteshaus.

Dazu stand aber auch eine Art Holzhütte im Kirchenschiff, tapeziert mit sehr frühem, durchaus farbenfrohen Mullican: collagierte Zeitungsschnipsel, mit Schere und Kleber verfertigte Zitate der uns ja immer noch umgebenden Medienwelt.

Dieses Aufgreifen und Ansammeln hat Methode: Geehrt werde, so teilte es die Possehl-Stiftung im späten Oktober mit, „einer der wegweisenden Vertreter“ der Pictures Generation, einer Gruppe von Künst­le­r*in­nen also, die sich nie selbst als solche bezeichnet haben, sondern das durchweg von außen zugeschrieben bekamen.

Strategien der bewussten Aneignung

Namensstifterin war eine Gruppenausstellung im Jahr 1977; oder noch mehr doch die etliche der Beteiligten zeigende New Yorker Galerie „Metro Pictures“? Dort habe die künstlerische Postmoderne begonnen, schrieb vielleicht etwas arg vollmundig mal das Monopol-Magazin.

Zumindest aber hallten die damals auch von der Pictures Generation erprobten Mittel lange nach: Nicht ums genialische Schöpfen ging es da, dafür um Strategien der bewussten, dabei mindestens doppelbödigen Aneignung; eine Stärkung der Rezeption gegenüber der Produktion, inspiriert auch durch die Lektüre etwa von Roland Barthes’ „Tod des Autors“. Bekannteste Angehörige der Gruppe, die keine sein wollte: Cindy Sherman, Richard Prince und Robert Longo

Ab Mitte der 70er befasste sich auch Mullican also mit dem Einfluss massenmedialer Bilder auf die alltägliche Wahrnehmung, machte solches ja längst überreichlich zu findende Material zum Gegenstand, auch Material künstlerischer Auseinandersetzungen.

Die Ausstellung

Matt Mullican, „Mapping the world. 50 Years of Work“: bis 8. 1. 23, Lübeck, Kunsthalle St. Annen.

Öffentliche Führung mit Annette Klockmann: 8. 1. 23, 15 Uhr.

Katalog: Matt Mullican, Mapping the world“, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2022, dt./eng., 144 S., 28 Euro (Museumspreis)

Es kommt dabei auch heraus, was einmal als Medienkunst durchging – als sei nicht jede Leinwand auch nur ein Medium. So sind in Lübeck nun einige von Mullicans Computeranimationen zu sehen. Beim Presserundgang deutete er an, dass die in den frühen 90er-Jahren sündhaft teuer gewesen seien; heute nur noch schwer vorstellbar, erklärt sich das über die Leistungssprünge der Hardware.

50 Jahre künstlerischen Schaffens haben aber auch ganz anderes hervorgebracht: Eine Möglichkeit, Ordnung zu bringen in das viele Material, liefert die Abstraktion: Wie da ein Motiv, eine Idee, immer reduzierter in Erscheinung tritt, das lässt sich in Lübeck schön nachvollziehen. Gezeichnet hat Mulligan, der auch mal in Hamburg Professor für Zeitbezogene Medien war, fotografiert, es gibt an Minimal Art Erinnerndes und (beinahe) zahllose Variationen von Mullicans eigenwilliger, dabei aber immer zugänglicher Kosmologie.

Er macht Peformances, lässt sich etwa vor Publikum in Trance versetzen, zeigt an Hochofenschlacke erinnernde Metallabgüsse privater Schubladeninhalte und filigrane Glasobjekte, Leuchtkästen und die metallenen Reproduktionen sämtlicher Seiten der Diderot- d’Alembert’schen „Encyclopédie“.

Wie diese ist seines ein in alle möglichen Richtungen wucherndes, aber bei allem Konzepthaften immer anschlussfähiges Œuvre, das der bis 2019 in Hamburg zeitbezogene Kunst lehrende Wahlberliner da ausstellt. Eine Kunst, die sich rezipieren lässt ganz ohne besonderes Wissen, aber auch mit sehr viel davon.

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