Ausstellung „Who’s next“ in Hamburg: Überleben von Tag zu Tag
Frappierend stimmig: In Sichtweite von Hamburgs Hauptbahnhof thematisiert die Ausstellung „Who’s next“ Obdachlosigkeit. Sie zeigt auch Lösungsansätze.
In der Modernen Pinakothek in München war die Ausstellung, die, mit Beispielen untermalt, verschiedene Perspektiven auf Obdachlosigkeit bietet, bereits zu sehen. Entstanden ist sie als Kooperation des Architekturmuseums der Technischen Universität München und des Museums für Kunst und Gewerbe (MKG) in Hamburg.
Nun ist sie dort zu sehen – ein „geradezu ideale(r) Ort“, heißt es im Ausstellungstext. Denn das Gebäude befindet sich direkt zwischen dem Hauptbahnhof und der Drogenhilfeeinrichtung Drob Inn. Die Gegend um den Hauptbahnhof ist einer der zentralen Orte in der Stadt für Menschen, die obdachlos sind. Das liegt vor allem an den vielen Hilfsangeboten dort, die von ihnen genutzt werden können.
Wenn man im Museum durch die Fenster nach draußen schaut, sieht man geschäftiges Treiben. Nicht selten sind dabei auch Menschen zu sehen, die offensichtlich durch das Leben auf der Straße gezeichnet sind: kaputte Klamotten, Schlafsäcke, große Bündel mit ihrem Hab und Gut. Diese Realität dort draußen scheint im Inneren des Museums, hinter den Glasscheiben, unendlich weit entfernt zu sein.
Mehr Symptom- als Ursachenbekämpfung
Aber auch das bedeutet „Who’s next“: Es kann jede*n treffen, rund 300.000 Menschen leben in Deutschland ohne Wohnung. Angesichts stark steigender Wohnkosten dürften es in den kommenden Monaten noch mehr werden.
Kurator Daniel Talesnik hat es sich mit der Ausstellung zur Aufgabe gemacht, das Problem der Obdachlosigkeit zum Thema zu machen und dabei auch Lösungsansätze aufzuzeigen. Im Vordergrund stehen dabei lokale und vor allem architektonische Lösungen. „Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ lautet der Untertitel der Ausstellung.
Ein entscheidendes Konzept ist der aus den Vereinigten Staaten kommende „Housing first“-Ansatz. Dabei geht es darum, dass Obdachlose zunächst ohne großen Papierkram einen geschützten Ort zum Schlafen bekommen. Wie es von da aus weitergeht, wird später entschieden.
Wie diese Idee umgesetzt werden kann, zeigen Beispiele aus der ganzen Welt. Dabei wird deutlich: Was sich zunächst gut anhört, kann auch zu einem Problem werden. Denn die Betroffenen verschwinden zwar von der Straße, mit ihnen verschwindet aber auch die Sichtbarkeit für das Problem. „Housing first“ ist deshalb häufig eine nur provisorische Lösung, die die Gefahr birgt, mehr Symptom- als Ursachenbekämpfung zu sein.
Wie unsichtbar Obdachlosigkeit ist, wird auch in der Ausstellung deutlich. Der Boden ist gepflastert mit neonpinkem Kreppband, mit dem die Umrisse einzelner Schlafsäcke angedeutet werden. Doch wie im Alltag auch übersieht und vergisst man sie und die unvorsichtigen Beobachter*innen stellen immer wieder fest, aus Versehen auf einem potenziellen Schlafplatz zu stehen. Dieser Unsichtbarkeit stellt die Ausstellung Texte, persönliche Videoporträts und Informationen zu standortspezifischen Besonderheiten in Bezug auf Obdachlosigkeit entgegen.
„Who’s next. Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“: bis 12. 3. 23, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe
Hamburg wird dabei an unterschiedlichen Stellen hervorgehoben. Eine Karte der Innenstadt zeigt im Maßstab 1:2.000, wo sich Anlaufstellen für Obdachlose befinden, etwa das Straßenmagazin Hinz & Kunzt und das dahinter stehende Projekt. Welche Rolle dieses nicht nur auch als Zufluchtsort für Menschen in Not spielt, wird in der Ausstellung prägnant vermittelt. So gelingt es „Who’s next“ immer wieder, an das „Draußen“ und an die Menschen zu erinnern, denen in der Kälte ohne Obdach derzeit der Tod droht, und das Unsichtbare der Obdachlosigkeit in der Stadt sichtbar zu machen.
Und ein kleines Schild, das ganz vorn in der Ausstellung steht, lässt zumindest ein bisschen Hoffnung aufkommen. Dort wirbt die Initiative #NullBis2030 um Unterstützung. Denn auch Hamburg will das EU-Ziel, bis 2030 alle Obdachlosen von der Straße zu holen, umsetzen.
„Das ist eine große Aufgabe, die große Anstrengungen erfordert “, heißt es dazu auf der Website nullbis2030.de des Projekts: „Mit einem Plakat, das Obdachlosen im Notfall Zuflucht bietet, wollen wir Aufmerksamkeit dafür schaffen, dass mit Ende des Winternotprogramms wieder Hunderte Obdachlose auf die Straße müssen.“
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