: Endlich gibt's das Mindeste
Nach einem Verfassungsgerichtsurteil bekommen Geflüchtete in Massenunterkünften nun das Existenzminimum. Ein Bundesgesetz hatte das verhindert – und die Länder mitgespielt
Von Lotta Drügemöller
Um 35 Euro geht es, jeden Monat. Das ist der Betrag, der Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften seit 2019 von ihrem Existenzminimum abgezogen wird, ganze zehn Prozent von dem, was sie insgesamt bekommen sollten. Zu Unrecht, wie im Oktober das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil festgestellt hat. Die einzelnen Länder waren bisher unterschiedlich mit der verfassungswidrigen Bundesvorgabe umgegangen – und gehen auch jetzt unterschiedlich schnell bei der Umsetzung der neuen Regelung vor.
Die verfassungswidrige Kürzung beruhte auf einem Bundesgesetz: Das unterstellte den Geflüchteten in Massenunterkünften, dass sie jeden Monat Geld sparen könnten – schließlich teilten sie sich ja eine Unterkunft mit anderen, sodass es möglich sei, bestimmte Lebensmittel gemeinsam einzukaufen und durchs Teilen zu sparen.
Bei Sozialhilfeempfänger*innen in Bedarfsgemeinschaften führt diese Überlegung schon lange dazu, dass der Staat das Existenzminimum geiziger berechnet. Aber davon auszugehen, dass auch Fremde, die nur zufällig und gezwungenermaßen gemeinsam wohnen, Lust haben, sich Lebensmittel zu teilen? Das geht nicht an, fanden von Anfang an Kritiker*innen des Gesetzes und nun auch das Bundesverfassungsgericht.
Veröffentlicht und damit gültig wurde das Urteil am 23. November; ausgezahlt hat das zusätzliche Geld noch kein Bundesland im Norden, aber alle versichern sie: Wir sind dran. Das Geld soll kommen, rückwirkend zu Ende November. Hamburg will die Mittel im Februar auszahlen, Bremen in den meisten Fällen bereits im Januar, Niedersachsen und Schleswig-Holstein äußern sich noch nicht zu einem genauen Zeitpunkt.
In Bremen hatte Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) schon im Februar gesagt, dass sie das Kleinrechnen der Regelsätze für verfassungswidrig halte. Gerade angesichts dieser Einsicht allerdings sieht sie sich jetzt besonders harscher Kritik gegenüber. Denn: Echte Schlüsse, so bemängelt der Flüchtlingsrat, habe die Verwaltung daraus nicht gezogen.
„Die Verfassung sticht ein einfaches Gesetz. Wer sich verfassungstreu verhalten möchte, sollte das als Maßstab anlegen“, kritisiert Holger Dieckmann vom Flüchtlingsrat. „Offenbar fand man die Menschenwürde in den Unterkünften nicht wichtig genug, um einen Konflikt mit dem Bund zu riskieren.“
In der Sozialbehörde empfindet man die Kritik als unfair. Immerhin hatte der Stadtstaat eine eigene Pandemieregelung erlassen, weil das gemeinsame Wirtschaften mit Fremden unter Coronabedingungen zusätzlich erschwert wurde. Wer etwa zwei Wochen in Quarantäne sei, dem könne in dieser Zeit das Lebensmittelteilen nicht zugemutet und das Geld nicht abgezogen werden.
Der Flüchtlingsrat jedoch kritisiert diese Regelung weiter als zu beschränkt: Sie galt nur in Einzelfällen und nur auf begründeten Antrag hin. Die Behörden hätten die Bewohner*innen nicht aktiv über die Möglichkeit informiert. Und von den wenigen Anträgen, die es doch gab, seien kaum welche bewilligt worden. Etwa 150 Anträge habe der Flüchtlingsrat Bremen selbst betreut – kein einziger sei in der ganzen Zeit positiv beschieden worden.
Die Behörde spricht seit Beginn der Pandemieregelung im Frühjahr 2021 grob von zwei Dutzend bewilligten Anträgen. Gekürzte Leistungen allerdings bekamen über tausend Menschen. Eine pauschale Regelung, so verteidigt sich das Bremer Sozialressort, gebe die Gesetzeslage nicht her. Der Bund erlaube schließlich nur, dass durch die Pandemie „in Ausnahmefällen“ eine andere Regelung „übergangsweise in Betracht“ komme. Andere Vorbilder hätte es gegeben. Der Werra-Meißner-Kreis in Hessen etwa nutzte die Pandemieregelung, um im Jahr 2021 pauschal allen Leistungsbezieher*Innen die vollen Bezüge zu gewähren.
Auch wenn in Bremen der Flüchtlingsrat besonders laut und kritisch ist: Andere Bundesländer im Norden waren in ihrer Auslegung nicht großzügiger. Niedersachsen hatte eine ähnliche Pandemieregelung gefunden, Schleswig-Holstein und Hamburg antworten nicht einmal auf die Fragen nach Ausnahmeregelungen.
Immerhin: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll sowohl in Bremen als auch in Niedersachsen eher weit ausgelegt werden. Rein formell gilt es nur für Menschen, die seit mehr als 18 Monaten in Deutschland leben, so wie der Kläger selbst. Die beiden Länder wollen es aber auf alle Bewohner*innen von Gemeinschaftsunterkünften beziehen, auch solche, die noch nicht so lange hier sind. Das Existenzminimum kommt spät – aber es kommt.
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