: Ein antisemitischer Horror
Warum unterstützten manche Ukrainer den Massenmord der NS-Besatzer an den Juden? Jeffrey Veidlingers überzeugende Studie über die Vorgeschichte des Holocaust
Von Klaus Hillenbrand
Die Ereignismeldung vom 16. Juli 1941 ist voll des Lobes: „Die ukrainische Bevölkerung zeigte in den ersten Stunden nach dem Abrücken der Bolschewisten eine begrüßenswerte Aktivität gegen Juden. So wurde in Dobromil die Synagoge angezündet. In Sambor wurden 50 Juden von der empörten Volksmenge erschlagen.“
Die Nazis konstatierten nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion eine weitreichende antisemitische Stimmung. Noch bevor sie mittels der Einsatzgruppen systematisch daran gingen, die ukrainischen Jüdinnen und Juden zu ermorden, schritten schon Teile der einheimischen Bevölkerung zur Tat. Und auch danach entpuppten sich gerade Ukrainer als willfährige Helfer der deutschen Massenmörder.
Das oben genannte Zitat findet sich im Buch des US-amerikanischen Historikers und Judaisten Jeffrey Veidlinger erst gegen Ende. Denn das eigentliche Thema von „Mitten im zivilisierten Europa“ ist nicht der Holocaust in der Ukraine durch das NS-Regime, sondern seine Vorgeschichte. Veidlinger geht darin akribisch der Frage nach, warum Teile der christlich geprägten ukrainischen Bevölkerung die einheimischen Juden so hasserfüllt ansahen, dass sie sich an diesem Massenmord aktiv beteiligten. Im Zentrum seiner Studie stehen dabei die Jahre zwischen 1918 und 1921.
300 Freiwillige beteiligten sich im Februar 1918 an einem jüdischen Infanteriebataillon. Sie trugen ein weißblaues Abzeichen mit dem Davidstern und kämpften für die im Vorjahr proklamierte Ukrainische Volksrepublik, die die Gleichberechtigung aller Religionen und ethnischen Gruppen im Land postuliert hatte. Jüdischstämmige Minister waren im Kabinett des Landes vertreten. Ihr Militärchef hieß Symon Petljura.
Acht Jahre später, im Mai 1926, erschoss der jüdische Uhrmacher Scholem Schwarzbard ebendiesen Petljura vor einer Pariser Buchhandlung. Nicht nur Schwarzbard identifizierte den exilierten Militär als Verantwortlichen für Hunderte Pogrome auf dem Gebiet der Ukraine, denen Abertausende Jüdinnen und Juden zum Opfer gefallen waren. Was war zwischen 1918 und 1926 geschehen?
Pogrome in der Ukraine waren schon im 19. Jahrhundert notorisch. Das Zarenregime scheute nicht davor zurück, Juden generell zu Sündenböcken zu erklären, und schritt nur selten ein, wenn ihre christlichen Nachbarn mit Mord und Totschlag die vermeintlichen Mörder Christi bedrohten. Im Ersten Weltkrieg warfen die russischen Militärs den Juden grundlos vor, die feindlichen Österreicher und Deutschen zu unterstützen und so als gefährliche fünfte Kolonne zu fungieren.
Doch mit der erzwungenen Abdankung des Zaren 1917 sollte alles anders werden – eine neue Zeit der Gleichberechtigung und Brüderlichkeit schien möglich. Doch tatsächlich hatten Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine keine Chance. Die Opfer aber wurden die Juden.
Denn die mit hehren Zielen gestartete Ukrainische Volksrepublik geriet, wie Veidlinger überzeugend argumentiert, von Beginn an zwischen die Mühlsteine nationaler und internationaler Politik. Da waren die Bolschewisten, die auf diese bürgerliche Bewegung herabsahen und sie möglichst rasch zu unterwerfen beabsichtigten – was am Ende auch gelang. Die Deutschen und Österreicher einte das Interesse, den Agrarexporteur Ukraine möglichst effizient auszusaugen. Polen plante, die Westukraine in einem eigenen Nationalstaat zu integrieren. Die westlichen Alliierten schließlich setzten auf ein vereinigtes Russland einschließlich der Ukraine und unterstützten die Truppen der Weißen, die gegen die Bolschewisten kämpften.
Jeffrey Veidlinger: „Mitten im zivilisierten Europa. Die Pogrome von 1918 bis 1921 und die Vorgeschichte des Holocaust“. Übersetzt von M. Richter. C. H. Beck 2022, 456 Seiten, 34 Euro
Der Ukrainischen Volksrepublik aber fehlte es an Autorität, ja zeitweise selbst an einem Hauptquartier. Militärs, ob mit oder ohne Deckung durch die Zentrale, nutzten die bolschewistische Bedrohung, um jüdisch geprägte Städte und Dörfer zu überfallen und dort ein Schreckensregime zu entfachen. Die Behauptung, die Juden unterstützten die Kommunisten, die wiederum die christliche Kirche auszulöschen plante, diente als schlagendes Argument – und trieb die antisemitisch aufgehetzte Bevölkerung dazu, sich am Plündern und Morden zu beteiligen. Die Tatsache, dass der Anteil von Juden in Führungspositionen der Linken besonders hoch war, galt als zusätzliches Argument. Aber auch bolschewistische Soldaten veranstalteten ihrerseits Pogrome – sie argumentierten umgekehrt, die Juden seien Kapitalisten. Hinzu kamen marodierende Bauernführer, die ihrerseits Juden überfielen, um sich zu bereichern.
Veidlinger zitiert aus Akten und Zeugenaussagen und entwirft ein Bild des Horrors – von brutal ermordeten Familien, ausgebrannten Stadtvierteln und flüchtenden Überlebenden, die im nächsten Ort erschlagen wurden.
Das Ergebnis waren nicht nur Zerstörung und Zehntausende Tote, sondern auch ein Narrativ, das sich in die Köpfe der Bevölkerung einbrannte – von den Juden als Helfer der linksradikalen Antichristen. Es ist dieses Bild, das bis heute von Zeit zu Zeit wieder aufgewärmt wird, wenn es den Zielen rechtsradikaler Verschwörer tunlich erscheint. Und es war dieses Bild, das dazu führte, dass eine pauperisierte, von Stalin ausgepresste ukrainische Bevölkerung während der deutschen Besatzung so bereitwillig den Nazis zur Seite stand.
Jeffrey Veidlinger ist mit seiner Studie ein bahnbrechendes Werk gelungen, das dazu beiträgt, Geschichte – und Gegenwart – verständlich und begreifbar zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen