Russischer Abzug aus Cherson: Freudentränen und Freiheitsgefühle

In Cherson im Süden der Ukraine herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die Rückeroberung stellt einen Wendepunkt im Krieg dar.

Ein Mann reckt eine Ukraine-Fahne in die Höhe

Erleichterte Gesichter am 12. Novmeber in Cherson Foto: Yevhenii Zavhorodnii/ap

taz | „Wir sind keine Sklaven. Wir sind Ukrai­ne­r*in­nen und wir sind stolz darauf“, sagt Julia mit Tränen in den Augen zu einem Korrespondenten des US-Senders CNN am Samstag. In eine ukrainische Flagge gehüllt, steht sie auf dem zentralen Platz der Stadt Cherson. Um sie herum haben sich Hunderte Be­woh­ne­r*in­nen versammelt, die vor Freude weinen, Fahnen schwenken und jubeln.

Am Donnerstag liefen in der Stadt noch russische Besatzer herum, am Freitag erreichten ukrainische Streitkräfte die Stadt, wo ihnen Menschen mit Blumen und Umarmungen begegneten. „Auf den Straßen der Stadt herrscht eine Atmosphäre, als ob die Ukraine zwei Weltmeisterschaften auf einmal gewonnen hätte, aber eigentlich müsste man diese Zahl mit 10 multiplizieren“, schreibt ein ukrainischer Arzt aus Cherson auf seiner Facebook-Seite.

Cherson ist die einzige Regionalhauptstadt, die die russische Armee seit Kriegsbeginn Ende Februar durchgehend besetzen konnte. Jetzt mussten sie Cherson, sowie Dutzende andere Ortschaften, nach achteinhalb Monaten wieder verlassen. Dies ist kein freiwilliger Rückzug oder eine Geste des guten Willens des Kremls, wie dieser selbst gerne behauptet. Dies ist der Erfolg des ukrainischen Militärs. Diesem ist es gelungen, die Lieferketten und Versorgungswege der Russen langsam, aber gezielt zu zerstören. All dies wäre natürlich nicht ohne westliche Waffenlieferungen an die Ukraine möglich gewesen.

Diese Aktionen führten zu einer der größten Niederlagen der russischen Armee – der Flucht aus Cherson – der Stadt, die Russland noch vor anderthalb Wochen nach einem Pseudoreferendum zu einem Bestandteil der Föderation erklärt hatte. Jetzt sehen die Werbetafeln, die die Besatzer überall in der Stadt aufgehängt haben, mit Aufschriften wie „Cherson ist eine russische Stadt“ oder „Russland ist für immer hier“, besonders dumm aus.

Dass die ganze Absurdität der russischen Besatzung auf diese Weise enden würde, war von Anfang an klar. Hier hatten unbewaffnete An­woh­ne­r*in­nen Kolonnen mit russischer Militärausrüstung mit ihren Körpern gestoppt, sie waren aus Protest auf die Straßen gegangen und hatten den Besatzern zugerufen, sie sollen nach Hause zurückkehren. Und sie haben eine aktive Partisanenbewegung angeführt.

Ohne Strom, Heizung und Wasserversorgung

Cherson lebt seit zwei Wochen ohne Strom, Heizung und Wasserversorgung. Die Kommunikation mit der Außenwelt ist abgeschnitten. Als die Russen abzogen, zerstörten die Besatzer die Infrastruktur – sie sprengten Stromleitungen, Kommunikationstürme und Brücken, verminten Straßen und Gebäude und versuchten, den Vormarsch der ukrainischen Truppen zu verlangsamen, um Zeit für ihren Rückzug zu gewinnen.

Es wird Wochen dauern, um die Kommunikation wiederherzustellen und die zahlreichen Minen zu räumen. Und noch immer ist die Stadt von Bombardierungen bedroht. Doch die Befreiung von Cherson stellt einen wichtigen Wendepunkt im Krieg dar. Als die ersten Fotos und Videos aus den befreiten Dörfern und Städten am rechten Dnipro-Ufer des Chersongebiets in den sozialen Netzwerken auftauchten, hielten die Ukrai­ne­r*in­nen in Erwartung, dass bald wieder die ukrainische Flagge über Cherson wehen würde, den Atem an.

Aber die ersten, die die Flagge auf dem zentralen Platz hissten, waren die An­woh­ne­r*in­nen selbst, noch bevor das ukrainische Militär dort offiziell auftauchte. Erstaunlicherweise haben die Menschen neben der ukrainischen Flagge die der Europäischen Union angebracht. Beide Fahnen wurden jetzt an der Stelle gehisst, wo vor Kurzem noch ein Lenindenkmal gestanden hatte.

Wichtiges Symbol

Die Rückkehr Chersons unter ukrainische Kontrolle ist ein Symbol, das keinen Zweifel daran lässt, dass die Ukrainer diesen Krieg gewinnen können. Vielleicht erscheint der Autorin dieser Zeilen zum ersten Mal seit acht Jahren die Deokkupation ihrer Heimat Krim als reales Szenario, das in absehbarer Zeit eintreten könnte. Die Ukrai­ne­r*in­nen haben den Willen zur Freiheit, sie wissen genau, wofür sie kämpfen und wofür sie sterben. Unabhängig davon, was russische Propagandisten sagen, verdankt sich der Rückzug der Besatzer aus den Gebieten Kyjiw, Tschernihiw, Sumy, Charkiw und einem Teil der Region Cherson einer enormen Anstrengung der ukrainischen Armee.

Auch wenn es derzeit viel Freude und Euphorie über die Befreiung von Cherson gibt: Jede und jeder in der Ukraine versteht, welcher Preis dahintersteckt, wie viele Soldaten auf diesem Weg starben und wie viele Zivilisten getötet wurden. So viel zahlt die Ukraine für ihr Recht zu existieren. Dieses Recht kann ihr niemand nehmen.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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