Sun Ra Arkestra in Hamburg: Kosmische Töne zur Heilung der Welt
Die Hamburger Afro-Futurismus-Reihe steuert auf ihren glitzernden Höhepunkt zu: Am Sonntag spielt das Sun Ra Arkestra in der Elbphilharmonie.
Ja, kann sie, führte Dery aus. Weniger als klassische Science-Fiction, eher als etwas größeres, weitgehenderes, unglaublicheres. Dery nannte es Afro-Futurismus und seither steht der Begriff. Gerade bringt die Elbphilharmonie ihm ein mehrwöchiges Ständchen, das mit dem Auftritt des Sun Ra Arkestras auf seinen Höhepunkt zusteuert.
Afro-Futurismus stoppt nicht bei der Beschreibung des Anderen. Während in den USA weiße Raumfahrer wie Buck Rogers und Flash Gordon sich seit den 1930er-Jahren ohne soziale Vision, aber mit mächtigen Strahlenpistolen in einem feindlich-fremden Morgen behaupteten, entwirft Afro-Futurismus eine bessere Schwarze Zukunft. Ohne darüber die afro-amerikanischen Wurzeln zu vergessen.
Als Verlängerung der Bürgerrechtsbewegung ins extraterrestrische, bietet George Clinton mit Bands wie Parliament und Funkadelic in den 70ern ein technologisch runderneuerte Schwarze Arche Noah, das Mothership. Herbie Hancock steuert ein Raumschiff auf seinem 74er-Album „Thrust“ durch lilafarbene Wolken, befeuert von Space-Funk-Synthesizern.
Sun Ra Arkestra live: 13. 11., 20 Uhr Hamburg, Elbphilharmonie, Großer Saal
„Space Is the Place“: 13. 11., 11 Uhr und 14. 11., 18 Uhr, Zeise Kinos, Hamburg
Ein Prophet und Mystiker
Seither taucht das Thema von HipHop über Detroit Techno bis zum Dub-Reggea in einer ganzen Reihe Schwarzer Musikstile auf. Der erfahrenste Raumfahrer des musikalischen Afro-Futurismus aber, sein Prophet und Mystiker heißt Sun Ra. Kein anderer hatte in seinem Pass als Geburtsort „Saturn“ stehen. Und niemand konnte seine Musik auch so klingen lassen.
Fragte ihn später jemand, warum ein Jazzmusiker wie er so viel über das Weltall und die Raumfahrt doziere, antwortete Sun Ra manchmal, er habe in Huntington, Alabama dasselbe College besucht, an dem Wernher von Braun Amerikas ersten Satelliten entwickelte. Das Wissen ist dann wohl osmotisch zu ihm gelangt.
Wobei sich Sun Ra weniger für Schubumkehr und Umlaufbahnen interessierte als für die Versprechen des Weltalls: grenzenlose Freiheit in Raum und Zeit. Für jemanden, der 1914 geboren als Schwarzer in der gesellschaftlichen Enge der Südstaaten aufwächst, sind es sehr attraktive Aussichten da oben.
Also formte er aus seinen Privatstudien ägyptischer Mythologie, äthiopischer Theologie und einem tiefen Interesse an Linguistik eine spirituelle und auf Freiheit ausgerichtete Weltsicht, die beginnend in den 50er-Jahren seine Arbeit, sein Leben und das Leben seiner Musiker durchdringt. Ihre Stärke zeigt sich schon daran, dass sein Arkestra noch heute auftritt – 29 Jahre nachdem Sun Ra den Planeten verlassen hat.
Geleitet wird dieses musikalische Theater inzwischen von Marshall Allen, seit den späten 50ern Sun Ras Weggefährte. Auch mit unglaublichen 98 Jahren spielt Allen noch ein furchteinflößendes Altsaxophon, navigiert aber hauptsächlich dieses gute Dutzend mit seinen Trompeten und Saxophonen, Flöten und Percussioninstrumenten, Keyboards und Kontrabässen durch einen unvorhersehbaren Strom kosmischer Töne. „Cosmic Tones For Mental Therapy“, wie es eine der weit über 100 Sun-Ra-Platten nennt.
Astronomische Gospel-Chants
Wohin die Energien dabei fließen, lässt sich im Voraus kaum absehen. Mal spielt das Arkestra als Meer wogender Gewänder und glitzernder Umhänge astronomische Gospel-Chants wie „Rocket #9“ oder „We Travel the Spaceways“, dann wiederum verwandelt sich die drei Generationen umspannende Gruppe nach wenigen Minuten in einen glühende Lava speienden Freejazz-Vulkan.
Wie weit Sun Ras Werk über seine Musik hinausgeht, wurde 1974 in Technicolor festgehalten. „Space Is The Place“ ist eine grelle low-budget-Mixtur aus Blaxploition-Movie, Science Fiction und radikalem Befreiungskampf. Der Zeitreisende Sun Ra schwebt darin in seinem von Musik angetriebenen Raumschiff auf die Erde, um für die Befreiung der Schwarzen Bevölkerung und gegen die Nasa zu kämpfen. Alles untermalt von atemberaubenden Liveauftritten des Arkestras.
„Black Power und Free Jazz kollidieren mit dem Modestil von ‚Superfly‘“, schrieb die New York Times über den Film, der damals nicht in die Kinos kam und viele Jahren lediglich als raubkopierter Mythos unter VHS-Sammler:innen kursierte. Inzwischen liegt das Zeitdokument restauriert und in voller Länge wieder vor und ist zum Abschluss des Afro-Futurismus-Programms noch zweimal in Hamburg zu sehen.
Für Sun Ra war Musik eine universelle, spirituelle Sprache. Verstehen kann sie jeder, sie sprechen zu lernen aber erfordert Disziplin. Die Musiker:innen, die er seit den 50ern um sich scharte, hatten sich strengen Regeln zu beugen. Tägliche Proben von bis zu acht Stunden, kein Alkohol, keine Drogen. „Kunst beginnt nicht mit Imitation, sie beginnt mit Disziplin“, lautet ein bekannter Sun-Ra-Spruch. Ein weiterer: „Das Mögliche wurde probiert und ist gescheitert. Jetzt ist es Zeit, das Unmögliche zu probieren.“
Anhaltende Relevanz
In seinem Fall besteht das Unmögliche aus ungewöhnlichen Takten und komplexen Wechseln, die selbst erfahrene Musiker:innen vor Herausforderungen stellt. Gleichzeitig aber bieten die Stücke Raum für Freiheit und Improvisation. Früher füllte vor allem Arkestra-Saxophonist John Gilmore diesen Raum. Sein freies Spiel prägte nicht nur über 40 Jahre die Musik Sun Ras, der 1995 gestorbene Musiker war auch ein maßgeblicher Einfluss für den Wegbereiter des modernen Jazz, John Coltrane.
Die anhaltende Relevanz der Arbeit Sun Ras zeigt sich nicht allein in einem schier endlosen Strom an Veröffentlichungen. Vielleicht ist der Bedarf für diese Musik heute sogar größer denn je. „Die Welt ist einem derart schlechten Zustand“, sagte Sun Ra schon im vergangen Jahrhundert, „wenn sie nicht bald denjenigen finden, den ihr Erlöser nennt, dann wird jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf diesem Planeten ausgelöscht.“ Was er wohl heute sagen würde?
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