Überlastete Berliner Jugendämter: Hilferuf der Helfer*innen
Coronakrise und Ukrainekrieg haben die Lage in den Jugendämtern verschärft. Die Mitarbeiter*innen fordern einen „realistischen“ Stellenschlüssel.
In Mitte betreue ein*e Mitarbeiter*in bis zu 70 Fälle. „Ideal“ und in der Praxis leistbar, so Kubsich-Piesk, seien maximal 28 Fälle. Im Schnitt blieben so rechnerisch pro Woche nur etwa 5 Minuten pro Familie, ergänzte Verena Bieler, Sozialarbeiterin in der Familienberatung und Vorstandsmitglied des Berufsverbands für Soziale Arbeit. „Aber für eine gute Intervention braucht es das Vertrauen der Familien, es braucht Zeit.“
Berlinweit liegt die „Fallbelastung“ im Schnitt seit Jahren bei etwa 45 Fällen pro Mitarbeiter*in im RSD, wie eine Antwort der Jugendverwaltung auf eine Anfrage der CDU-Abgeordneten Katharina Günther-Wünsch zeigt.
Konkret streiten sich die Jugendämter derzeit mit der Senatsjugendverwaltung um mehr Personal. Hintergrund ist, dass der Stellenschlüssel in der Jugendhilfe seit 2006 nicht grundlegend überarbeitet worden sei, wie es von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft heißt. Inzwischen seien aber zum einen die Bedarfe gestiegen – nicht zuletzt durch die Pandemiejahre und aktuell die Ukrainekrise, die auch viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in die Stadt bringe. „Das sind deutlich mehr als in der Syrienkrise 2015“, sagt etwa Silke Bishop, Geschäftsführerin von Kinder lernen Leben, eines freien Trägers in der stationären Jugendhilfe.
Zum anderen berücksichtige der zugemessene Stellenschlüssel nur die Fallzahlen – nicht aber die Art der Tätigkeit, kritisiert die GEW. Die Bearbeitung einer Kinderschutzmeldung sei anders aufwendig als die Begleitung einer Familie vor Gericht. Das laufe in anderen Bundesländern, etwa in Bayern, längst anders. Zumal der Bund 2021 ein Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen beschlossen, dass die Aufgabenbereiche der Jugendhilfe noch erweitert – zum Beispiel um Aspekte der Inklusion.
Bewerber*innen machen Rückzieher
Kubsich-Piesk vom Jugendamt Mitte sagt, vier von rund 22 Stellen im RSD Gesundbrunnen seien derzeit nicht besetzt – immerhin ein gutes Fünftel. „Es gibt zwar durchaus Bewerber auf freie Stellen, aber viele wollen sich die Arbeitsbelastung dann einfach nicht zumuten.“
Berlinweit waren zum Stichtag 1. Dezember 2021 rund 102 von 898 Vollzeitstellen nicht besetzt, wie eine Antwort der Jugendverwaltung auf die CDU-Anfrage heißt. Neuere Zahlen gibt es nicht. Die Unterschiede zwischen den Bezirken sind groß: Während in Friedrichshain-Kreuzberg alle Stellen als besetzt gemeldet wurden, waren in Marzahn-Hellersdorf 24,9 Stellen im RSD offen, das sind in dem Bezirk rund 30 Prozent.
Bereits 2013 und 2015 waren die Jugendämter auf die Barrikaden gegangen und hatten in einer viel beachteten Aktion weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt – quasi als Kapitulationserklärung in Richtung des Senats. 2014 hatte sich in der GEW auch die bezirksübergreifende Arbeitsgemeinschaft Weiße Fahnen gegründet, die eine bessere Personalsituation erwirken wollte. „Wir sehen da aber immer noch kein Licht am Horizont“, sagte Ronny Fehler, Referent im Vorstandsbereich Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit bei der GEW. Es mangele an „greifbaren Ergebnissen“.
Also wolle man jetzt auch öffentlich „Druck machen“, sagt Fehler – zumal Ende des Jahres auch ein gemeinsamer Runder Tisch für einen besseren RSD von Senatsverwaltung und Bezirken ausläuft. Die Jugendverwaltung verweist unter anderem auf einen Ausbau der Fortbildungsangebote sowie der Studienplatzkapazitäten für Soziale Arbeit in den letzten Jahren, um dem Fachkräftemangel zu begegnen.
Ronny Fehler, GEW-Referent Jugendhilfe und Sozialarbeit
Den Jugendämtern geht das am Kern des Problems vorbei: Die Berechnung des Stellenschlüssels müsse dringend überarbeitet werden, heißt es auch von den Vertreter*innen der freien Träger am Dienstag unisono – damit die Fachkräfte auch bleiben und nicht gleich wieder erschöpft den Dienst quittieren. „Je größer die Personalnot in den Jugendämtern, desto schlechter können wir unsere Arbeit machen“, sagt Sozialarbeiter und GEW-Vorstandsmitglied Fabian Schmidt.
Gemeinsame Hilfekonferenzen mit dem Jugendamt, der „Auftakt für jeden sinnvollen Hilfeplan bei neuen Fällen“, sagt Schmidt, „finden oft überhaupt nicht statt.“ Immerhin aber seien die Jugendamtsmitarbeiter*innen in der Coronapandemie inzwischen auch mit Diensthandys ausgestattet worden. Das habe die Erreichbarkeit verbessert.
Falls sich bei den nächsten Gesprächen mit der Jugendverwaltung nichts bewegen sollte, denke man auch durchaus wieder über weitere Protestformen nach, hieß es am Dienstag. Weiße Fahnen nicht ausgeschlossen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Nach Ausschluss von der ILGA World
Ein sicherer Raum weniger
Menschenrechtslage im Iran
Forderung nach Abschiebestopp