Die Kunst der Woche: Gesten der Zärtlichkeit
Die Kunstbibliothek zeigt unvollständige Kunstobjekte. Neben dem 16. IBB-Preis für Photographie werden zum Jubiläum auch die letzten 15 Jahre gezeigt.
5 junge Nachwuchswissenschaftler:innen der Staatlichen Museen zu Berlin haben diese Sonderausstellung kuratiert, die sich um jene Bestandteile der Museumssammlungen kümmert, die nur selten präsentiert werden, nämlich die Fragmente, die unvollständigen oder nie vollendeten Kunstobjekte. „In:complete. Zerstört – Zerteilt – Ergänzt“ in der Kunstbibliothek zeigt in sechs großartig bestückten Kapiteln rund 60 Artefakte von der Prähistorie bis zur Gegenwart aus insgesamt 23 Sammlungen der Stiftung preußischer Kulturbesitz.
Am Anfang steht die Zerstörung von Kunstwerken im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen, ein in Europa gerade wieder aktuell gewordenes Thema, das wohl Anlass zur Ausstellung gegeben haben könnte. Repräsentativer Fall: die Bacchantin auf dem Panther (1848) des Bildhauers Theodor Kalide, die man aus dem Schutt des Treppenhauses der Nationalgalerie bergen konnte, als es nach einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört war.
Die Verletzlichkeit des Museums, nicht nur als Bauwerk, sondern als für ein Publikum offener Raum, wird uns momentan nahezu täglich vor Augen geführt, wenn auch mit deutlich weniger dramatischen Folgen, wenn sich die Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ in ikonoklastischen Aktionen an Kunstwerke kleben oder sie mit Tomatenpüree oder Kartoffelbrei überschütten. Die mutwillige Beschädigung kann aber auch aus kommerziellen Gründen geschehen.
Ein Kunstwerk wird also bewusst zerteilt, um mehrere Bilder zu gewinnen, wobei oft der Kontext und die Geschichte des Kunstwerkes mitzerstört wird und nur noch bruchstückhaft bekannt ist. Das im Kapitel Zerteilen und Wiederverwenden ausgestellte Bild der Muttergottes und das Bild von Joseph mit zwei Hirten sind Fragmente einer größeren Tafel aus der Werkstattdes Dieric Bouts (1410/20-1475), von der man nur Dank einer kleinen Kopie weiß. Abgefahren hier auch die kleinen Paul Klees, die der Künstler selbst produzierte, indem er selbst seine Zeichnungen und Gemälde in zwei oder mehr Teile zerschnitt.
Der Reiz des Unvollendeten
Oft ist es eben der Künstler selbst, der das Fragment verursacht, sei es, dass er wie Adolph Menzel im Porträt die Augenpartie, mit der er wohl unzufrieden ist, herausschneidet. Sei es, dass er wie Karl von Appen die Porträtskizze der Schauspielerin Manja Behrens 1947 nicht fertigstellt, weil er dem Reiz des Unvollendeten, wie ein weiteres Kapitel heißt, erliegt. Er hat das Bild signiert, was darauf hindeutet, dass er es für vollendet hielt.
Dem Reiz des Unvollendeten steht die Versuchung zum Ergänzen und Restaurieren entgegen, was oft größeren Schaden anrichtet als man ahnt. Aber hier in diesem Kapitel geht es um professionell ausgeführte Arbeiten, von denen man sich heute trotzdem nicht mehr ganz sicher ist, ob sie wirklich nötig sind. Das betrifft vor allem die antiken Sammlungsstücke, die zur Zeit ihres Funds im 19. Jahrhundert vor allem als vollständig geschätzt und entsprechend oft ergänzt wurden.
Die Faszination Fragment wie ein letztes Kapitel überschrieben ist, trat erstmals in Renaissance auf, lebt aber bis heute fort. Ein besonders hippes Beispiel ist die zwischen das 16. und das 18. Jh. datierte koreanische Keramikschale, die einst zerbrochen war und dann geflickt wurde und zwar aus ästhetischen Gründen sichtbar, dank einer auffällig goldenen Klebung. Das einfache Gebrauchsgeschirr ist nach seiner Heilung erst wirklich kostbar.
An sich ist ja das Museum selbst Fragment, wie Moritz Wullen, Direktor der Kunstbibliothek im Vorwort zum Katalog meint. Andernfalls, das ist schnell zu ahnen, wäre es eine furchterregende, alles umfassende Jorge Luis Borges’sche Konstruktion.
Der Plan ging auf
Die IBB-Bank hat in den Pandemie-Jahren recht unbürokratisch die Neustart-Hilfen an Soloselbständige ausgezahlt, darunter viele Künstler und Künstlerinnen. Für sie setzt sie sich freilich längst schon ein, mit dem IBB-Preis für Photographie, den sie gemeinsam mit dem Freundeskreis der UdK Berlin | Karl Hofer Gesellschaft e.V. seit dem Jahr 2007 verleiht. Ziel des eigenständigen Programms war es herausragende Absolvent*innen der Universität der Künste Berlin zu fördern – und dieser Plan ging auf das Großartigste auf. Angelegt auf drei Jahre verboten es die von Beginn an beachtlichen Ergebnisse, danach Schluss zu machen und so feiert der Preis jetzt sein 15-jähriges Jubiläum mit einer Gruppenausstellung in der Kommunalen Galerie Berlin, die die IBB-Preisträger und -Preisträgerinnen noch einmal Revue passieren lässt.
Zu sehen sind 15 Positionen, die „einen dezidiert künstlerischen Weg mit der Photographie gehen“ wie Hubertus von Amelunxen in seinem Text zur Ausstellung schreibt. Und das gilt auch für dokumentarische Ansätze wie KANTINSEL, die Fotoserie, die Norbert Wiesneth während eines Artist-in-Residence-Aufenthalts in Kaliningrad realisierte. Er war Preisträger der ersten Auslobung 2007, der Anerkennungspreis ging an Alicia Kwade. Wie Amelunxen noch anmerkt paart sich die fotografische Arbeit bei den Preisträgern und Preisträgerinnen oft mit filmischer, malerischer, zeichnerischer und bildhauerischer, dazu vielfach auch wissenschaftlicher Arbeit.
Das auf mächtigen Beinen stehende Hybridhuhn etwa von Andreas Greiner, dem Preisträger 2015, bringt sofort dessen grandiose Ausstellung in der Berlinischen Galerie vor Augen, wo er 2016 dieses Huhn als Skelett in Dinosauriergröße zeigte. Nicht nur für die Knochen im Maßstab 20:1 aus dem 3-D-Drucker nutzte er in der Ausstellung bild- und modellgebende Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschung.
Die Taube hat es dann Julius von Bismarck & Julian Charrière, die die Anerkennung 2013 erhielten, angetan. Und so steht man in der Ausstellung vor einer Reihe von Aufnahmen, die den verfemten Stadtvogel exotisch bunt gefärbt zeigen, mit Absicht so unsere Sympathie für ihn zu gewinnen. Dagegen informationstechnisch spröde tritt Clara Bahlsen auf (Anerkennung 2011). Sie malte den QR-Code für „Welcome to Human Club“ 2021/22) an die Wand. Scannt man ihn, gibt es dann doch bunte Bilder und rätselhafte Dialoge, präsentiert auf dem Smartphone, das inzwischen auch sein 15-jähriges Jubiläum feiert.
Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie
Und natürlich wurde auch in diesem Jahr wieder der IBB-Preis verliehen, zum 16. Mal, jetzt an Dana Rabea Jäger, die digital ein großes Thema der Fotografie verhandelt, mit dem beider Zugehörigkeit zur Moderne identifiziert wird, nämlich die Schaufensterpuppe. Jäger buchstabiert in ihrer Serie „Notes IOU“ mit den Puppen Gesten der Zärtlichkeit durch. Und weil sie dafür exquisite, enge Bildausschnitte findet, ein helles Licht setzt, das dann ganz zauberhafte sanfte Schatten wirft, die den subtil sich unterscheidenden Haut- eigentlich aber Farbton der Kunststoff-Protagonisten auch noch ins raffinierte Spiel der androgynen Körper bringen, erscheint dieses traumgleich unwirklich und faszinierend gegenwärtig zugleich.
Ein klassisches Sujet der Kunstgeschichte greift dann Sina Yome Link, die die Anerkennung erhielt, in der Ausstellung im Gebäude der IBB-Bank mit dem Seestück auf. Ihre gleißenden Meereswellen, die sie im Siebdruckverfahren auf Stoff druckt, rollen über große Dramen hinweg. Erst ein Kamerablitz, der auf im Raum installierten Stoffe gerichtet ist, macht sie für den Moment sichtbar. Der Blitz lässt auf der reflektierenden Oberfläche ein gedrucktes Fotopositiv aufscheinen, einmal im Bild „I’m Yasmine, 16“ wird ein Boot sichtbar, das andere Mal im Bild „I’m Youssef, 6 month“ ist nur das Meer zu sehen, der Säugling hat die Flucht übers Mittelmeer nicht überlebt.
Selten wird den Betrachtenden die gefährliche, leidvolle und leider oft tödliche Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer so unausweichlich vor Augen geführt wie auf diesen glänzend schönen Oberflächen, den titelgebenden „Reflections“, auf denen Sina Link die Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie eindrücklich zu zeigen vermag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod