Zeit erforschen in der Kunst: Das flüchtige Element Luft
Das ZKM Karlsruhe zeigt die erste Retrospektive der Künstlerin Soun-Gui Kim in Europa. Sie verfolgt Konzept der Muße, der Beobachtung und Reflexion.
„Lazy Clouds“ ist der Titel der Schau von Soun-Gui Kim im ZKM Karlsruhe. Übersetzt bedeutet er so viel wie „faule, träge Wolken“. Alles easy, nur kein Stress? Die nahe Paris auf dem Land lebende Multimedia-Künstlerin verfolgt, wie sie selber sagt, ein „Konzept der Muße“, doch handelt es sich um eine tätige Muße. Schon die Fülle der gezeigten Filme, Installationen, Dokumentationen, Papierarbeiten, Zeichnungen und Projektskizzen belegen eine unablässige Produktivität. Auch lehrte die Künstlerin an verschiedenen Kunsthochschulen, in Marseille, Lyon und in Hamburg. Ausstellungen – meist im Kontext der Medienkunst – führten sie rund um den Globus.
Die sich über zwei Lichthöfe erstreckende Retrospektive ist eine Übernahme des National Museum of Modern and Contemporary Art Seoul. Da es sich um die erste Retrospektive der französisch-koreanischen Soun-Gui-Kim in Europa handelt, ist es eine späte Würdigung einer Künstlerin, die früh Verfahren wie gemeinschaftliches Arbeiten oder Multimedia praktizierte. Mit ihr wird auch an eine Kunstära erinnert, in der es um ästhetische Grundlagenforschung ging.
Das Intro verbreitet gleich entspannte Stimmung – und feiert eine Obsession der Künstlerin. Auf riesigen, im Lichthof schwebenden Flatscreens laufen wackelige Doku-Videos von Werken aus den 1970er Jahren, als Soun-Gui Kim in Nizza und Marseille studierte. Im Wind flatternde, farbige Tücher, eine ganze Armada von Drachen am Himmel, über dem Wasser tanzende weiße Ballons. Diese „situation plastique“ genannten, mit vielen Helfern realisierten Aktionen feierten nicht zuletzt das flüchtige Element Luft.
Als Kind träumte Soun-Gui Kim davon, als Reisende den Mond zu besuchen. Sie blieb am Boden und löste sich auf ihre Weise von der Schwerkraft.
„Lazy Clouds“, Soun-Gui Kim, ZKM, bis 5. Februar
Ihre experimentellen Sprachspiele, die etwa den Zusammenhang von materieller Farbe und deren Bezeichnung neu verorten, stehen im Zusammenhang mit ihrem frühen, bereits als Studentin in Korea begonnenen Projekt der Dekonstruktion der Malerei. Zu ihren jüngeren Arbeiten hingegen gehört „rear window“, Fenster zum Hof, in dem die Malerei auf andere Weise befragt wird. Sie nahm ein ganzes Jahr lang den Blick aus einem Fenster zum Garten auf: In ein und derselben Einstellung dokumentierte sie eine Version des ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten.
Fokussierung mit Pfeil und Bogen
Ihre Strategie, möglichst wenig zu tun, dafür genau zu beobachten und zu reflektieren, hat auch mit ihrer kulturellen Prägung zu tun. Die 1946 in der Republik Korea geborene Soun-Gui Kim wurde von ihrer Mutter in die Kalligrafie eingeführt; auf das Erlernen des Bogenschießens drang sie als College-Schülerin selbst.
Zu den einprägsamsten Bildern der Karlsruher Ausstellung gehören Filmaufnahmen, die Soun-Gui Kim zeigen, wie sie vollkommen fokussiert Pfeil und Bogen spannt. Der rotierende Pfeil rast in Zeitlupe trudelnd auf die Zielscheibe zu und bliebt vibrierend in der Zielscheibe stecken. Die Einschüsse überklebt und übermalt die Künstlerin später und präsentiert den solchermaßen bearbeiteten Gegenstand als Bild.
Jede ihrer künstlerischen Entscheidungen könnte als Akt des Bogenschießens verstanden werden, der eine entspannte Form der Konzentration erfordert. Wie etwa ihre Experimente mit einer einfachen Lochkamera, mit der sie ihre Küche oder den Waldboden aufnahm. Die Voraussetzungen waren denkbar einfach. Ihre Leistung lag im Verzicht auf die moderne Technik, um ein nicht kalkulierbares Ergebnis zu erreichen. Das Ergebnis sind unscharfe Aufnahmen, die ungemein malerisch wirken.
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy sagte über die Künstlerin: „Soun-Gui Kim experimentiert mit der Materie der Zeit und der Zeit der Materie.“
Nähe zu Fluxus
Wichtig waren für sie auch die frühen Freundschaften zu dem Fluxus-Künstler Nam June Paik und zu dem US-Komponisten John Cage, der nach der Lektüre des Buchs der Wandlungen „I Ging“ die Idee der Komposition neu erforschte. Berühmt ist sein Stück „4’33“, in dem der Pianist nicht ein einziges Mal die Tasten berührte. Was das Publikum hörte, waren allein die selbst verursachten Geräusche. Soun-Gui Kim brauchte keinen Konzertsaal. Sie zeichnete einfach die Spuren von verschiedenen Vögeln im Schnee nach, die sie an ihrem Haus fand, und übertrug die Wege in Grundrissskizzen.
Viele ihrer Werke haben den Charakter von Tagebuchaufzeichnungen. Selbst eine ihrer neuesten Medienkunstarbeiten spielt auf ihre Art, zu leben und zu arbeiten, an. Die aber ist nicht gänzlich vom philosophischen Buddhismus geprägt. Soun-Gui Kim soll auch ein Technikfreak sein, in ihrem Haus türmten sich Video-Equipment aus Jahrzehnten, heißt es im Katalog.
Der weibliche Roboter namens Yeong-Hee jedenfalls, den sie „bored fool“ oder auch „lazy cloud“ nennt, steht ihr besonders nahe. Yeong-Hee rezitiert ab und zu Gedichte der Künstlerin in Französisch oder Koreanisch. Sie sitzt auf einer Bank unter einer Kiefer, ein Buch auf den Knien. Yeong-Hee steht für „gelangweilte Närrin“. Sie sei „die wichtigste Blumenknospe der Kunst“, schreibt Soun-Gui Kim.
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