Kinder- und Jugendbücher im Herbst: Spielräume in Krisenzeiten
Hoffnungsfrohe Lektüren. Ein Abenteuer während der Pandemie, die leuchtende Erfindung gegen den Krieg und ein Handbuch für angehende Stadtplanerinnen.
Ellie und Oleg sind Teil einer modernen Patchworkfamilie. Eigentlich wohnen die zwölf- und der achtjährige in der Stadt, doch nun herrscht Pandemie und die Schulen sind geschlossen. Deshalb sind sie mit Mommie, Ron, Mats und Lilac raus aufs Land gezogen, in das noch renovierungsbedürftige Haus irgendwo an der Grenze zu Polen.
Das klingt erst mal wie ein Klischee, doch schon nach wenigen Seiten entwickelt „Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier“ aus einer hyperrealen Situation eine verblüffende Dynamik. Plötzlich stehen Ellie und Oleg in Katja Ludwigs Erzählung vor einer riesigen Herausforderung.
Während die Erwachsenen mit der kleinen Lilac und Mats, Olegs großem Bruder, in der Stadt noch letzte Dinge erledigen müssen, wollen die beiden Kinder zum ersten Mal allein in dem abgelegenen Haus auf dem Land bleiben. Falls sie Hilfe bräuchten, könnten sie einfach anrufen. Oder zu Edeltraut gehen, der einzigen Nachbarin, die alleinstehend schräg gegenüber wohnt. Alles also kein Problem.
Doch dann kehren die Eltern auch am späten Abend nicht zurück. Zudem ist Ellies Handy unauffindbar, und von Edeltraut fehlt jede Spur. Nur ihre Katze Sissi schleicht hungrig über den Hof. In Decken gehüllt und eng aneinander gedrückt verbringen Ellie und Oleg diese erste Nacht allein auf der Küchenbank. Am Morgen hören sie im Radio etwas von „Katastrophenfall“ und „nationalem Notstand“.
Katja Ludwig: „Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier“. Illustrationen von Heike Herold. Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2022. 240 Seiten, gebunden, 16 Euro. Ab 9 Jahre.
Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw: „Als der Krieg nach Rondo kam“. Aus dem Ukrainischen von Claudia Date und Oksana Semenets. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2022. 40 Seiten, gebunden, 16 Euro. Ab 5 Jahre.
Osamu Okamura (Autor), David Böhm und Jiří Franta (Illustrationen): „Die Stadt für alle. Handbuch für angehende Stadtplanerinnen und Stadtplaner“. Aus dem Tschechischen von Lena Dorn. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 2022. 176 Seiten, 25 Euro. Ab 10 Jahre.
Brandenburger Robinsonade
Als eine Art Brandenburger Robinsonade, inspiriert durch die Erfahrungen der zurückliegenden zwei Pandemiejahre, schildert die Berliner Autorin und Ärztin Katja Ludwig außergewöhnliche Tage aus der Perspektive der Zwölfjährigen. Nicht nur äußerlich wirken die dunkelhäutige Ellie und ihr hellblonder Stiefbruder recht verschieden.
Mutig stellt sich die ältere Schwester der neuen Situation und beruhigt damit oft genug den ängstlichen Jungen. Im Ausnahmezustand bilden sie gemeinsam ein verlässliches Team. Mit Zuversicht, Einfallsreichtum und Fürsorge meistern die Geschwister unwirtliche Nächte in der Wildnis, Infekte und Versorgungsengpässe.
Bald sind sie nicht mehr ganz allein. Nach Sissi, der Katze, weicht auch Averell eines Tages nicht mehr von ihrer Seite. Unterstützt von dem streunenden Hund gelingt es den beiden Überlebenskünstlern, in einer dramatischen Rettungsaktion eine weitere Katastrophe zu verhindern.
Der Krieg im Kinderzimmer
Bereits 2015, ein Jahr nach der Annexion der Krim durch Russland, erschien in der Ukraine das Bilderbuch „Als der Krieg nach Rondo kam“. In ihrer grafisch gestalteten Geschichte für Kinder ab fünf erzählen die international ausgezeichneten Illustratoren Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw von drei Freunden, die in der besonders liebenswerten Stadt Rondo leben.
Deren größte Attraktion ist das singende Gewächshaus. Hier wachsen die schönsten Blumen und stimmen jeden Morgen die Hymne der Stadt an. Danko versorgt diese Pflanzen fürsorglich. Mit einem leuchtenden Herz in der Mitte ähnelt sein Körper einer Glühbirne.
Fabian, ein pinkfarbener Luftballonhund, ist ein begnadeter Schatzsucher und Sirka eine reiselustige Papierfliegerin. Eines Tages jedoch schiebt sich der Krieg wie eine dunkle, unheilvolle Wolke über das idyllische Rondo.
Die Lichtmaschine
Schwarze Blumen vernichten alles Bunte und Blühende. Verzweifelt stellen sich die drei zerbrechlichen Wesen dem Krieg entgegen und werden verletzt. Durch einen glücklichen Zufall macht Danko jedoch eine überraschende Entdeckung. Unterstützt von den Freunden und Bewohnern der Stadt konstruieren sie eine faszinierende Lichtmaschine, um ihre Blumen vor der Dunkelheit zu retten. Und damit den Krieg zu besiegen.
Mit fantasievollen Illustrationen und einem ausgefallenen Figurenensemble entfernt sich das ukrainische Künstlerpaar aus Lwiw bewusst von allzu realistischen Darstellung des Schreckens. Stattdessen entscheiden sie sich für eine zugängliche und verständliche Symbolik, um Krieg, Hoffnung und Widerstand im Kinderbuch zu thematisieren.
Durch die verschlungenen Stadtpläne von Rondo und dem wiederkehrenden Motiv des Labyrinths fühlt man sich unweigerlich an das berührende Werk des Kinderbuchautors Peter Sís erinnert.
Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat der Erzählung eine neuerlich erschreckende Aktualität verliehen. Nun haben Claudia Dathe und Oksana Semenets das ukrainische Bilderbuch ins Deutsche übersetzt.
Kinder in der Stadt
„Seit 2008 lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten.“ Und diese Entwicklung ist längst nicht abgeschlossen. So verbindet sich die Planung urbaner Räume heute zwangsläufig mit der Frage, wie wir leben wollen.
Der Architekt Osamu Okamura ist Dekan der Fakultät der Kunst und Architektur an der tschechischen Universität in Liberec. Er beschäftigt sich mit der Lebensqualität von Städten. Gemeinsam mit den Künstlern David Böhm und Jiří Franta ist ihm ein außergewöhnlich kreatives Sachbilderbuch über Stadtentwicklung gelungen, das sich gleichermaßen an Kinder und junge Erwachsene richtet.
Besonders die doppelseitigen Abbildungen der detailreich und unkonventionell gestalteten urbanen Landschaften von Böhm und Franta entfalten beim Betrachten eine regelrechte Sogwirkung. Gleichzeitig strukturieren diese virtuosen Modelllaufbauten das komplexe Thema auf sehr unterhaltsame und nachvollziehbare Weise.
Wichtige Prozesse
Begleitend dazu verhandelt Okamura in knappen, aber ausreichend ausführlichen Textpassagen wichtige historische Prozesse. Solche etwa wie die Entwicklung monofunktionaler Stadtviertel, die Suburbanisierung oder drängende Fragen nach bezahlbarem Wohnraum, öffentlichem Transport und Klimaschutz.
Trotz berechtigter Einwände bleibt die Stadt für Okamura ein faszinierender Lebensraum und eine zivilisatorische Errungenschaft, die den Menschen Bildung, soziale Teilhabe und Glück verspricht. Durch Engagement und Bürgerbeteiligung, so ist sich der Autor sicher, kann es gelingen die Zukunft unserer Städte mitzugestalten. Das „Handbuch für angehende Stadtplanerinnen und Stadtplaner“ ermutigt dazu.
Und es erinnert daran: „Das Wichtigste in der Stadt sind die Menschen, nicht die Häuser.“
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