: Ein Spielfeld für Kunst und Kultur
Die Mahalla in Oberschöneweide soll Raum bieten für Festivals und Flohmärkte, Ausstellungen und Konzerte. Erste Ateliers sind schon besetzt, die ganz großen Veranstaltungen scheitern bisher noch am Brandschutz
Von Andreas Hartmann
In dieser riesigen Industriehalle in Oberschöneweide wurden einst Dampfturbinen ausgestellt. Im Eingangsbereich des Backsteinbaus mit Glasdach von 1897 war der Showroom für die gewaltigen Maschinen, die die AEG hier auch fertigte. Darum auch all das Glas an der Decke: Die Halle sollte von Sonnenlicht durchflutet und die Turbinen sollten vor den Augen interessierter Gäste so noch mehr zum Glänzen gebracht werden. Kunden aus aller Welt fanden sich hier ein, interessiert an deutscher Ingenieurskunst für das Industriezeitalter.
Heute fühlt man sich gleich ein wenig erschlagen von deren Imposanz, wenn man die Halle über die Rampe betritt – und die 4.000 Quaratmeter Weite vor sich sieht. Und das ist noch nicht alles: Das unterkellerte, dreistöckige Gebäude verfügt über mehr als 70 Räume mit insgesamt 9.000 Quadratmetern, die nun wohl bald mit Kunst und Kultur bespielt werden können. Was hier am Entstehen ist, hat wirklich gewaltige Dimensionen.
Geschäftsführer der Kunsthalle ist Ralf Schmerberg, Filmemacher, Fotograf, Künstler, Musiker und – was diese Halle betrifft – ganz offensichtlich Visionär. Nach und nach will er den Ort mit seinem Team renovieren und erschließen, ein Unterfangen, sagt Schmerberg, das wahrscheinlich nie ganz abgeschlossen sein wird. Dabei hat es ihn eher zufällig nach Oberschöneweide verschlagen und es ist eher unabsichtlich so groß geworden.
„Ich hatte einfach Lust darauf zu schauen, was es für Möglichkeiten am Stadtrand gibt“, erzählt Schmerberg. Via Google Earth habe er diesen sondiert, von Tegel über Spandau bis Kleinmachnow. Am Ende sei er dann in Oberschöneweide gelandet. In einem Bezirk, von dem es heißt, er sei schwer im Kommen, und in dem sich vor zwei Jahren der Technoclub Revier Südost niedergelassen hat, der aber noch nicht wirklich im Zentrum der Wahrnehmung Berliner Kulturinteressierter angekommen ist.
Ein hübsches Objekt für ein Atelier habe er dort zunächst aufgetan und wollte schon fast den Mietvertrag unterschreiben. Doch dann fragte er den Gebäudeverwalter, was es hier sonst noch so gebe. Und der zeigte ihm die Turbinenhalle.
Nun trifft man Schmerberg in seinem Büro im Obergeschoss. Auf der Eingangstür steht „Damengarderobe“. In dem Raum zogen sich einst die Arbeiterinnen um, erzählt er. Als er die Halle, die lange einfach nur leer stand und immer baufälliger wurde, vor ungefähr drei Jahren das erste Mal betrat, war genau hier, wo er es sich inzwischen gemütlich gemacht hat, das Dach durchgebrochen. Nun plant er an dieser Stelle seine nächsten Projekte. Auf dem Boden sind Pläne für eine Ausstellung ausgebreitet, in einer Ecke steht eine Harfe.
„Vom Flohmarkt über ein Punkfestival bis hin zu Avantgardetheater und einem Kinderfest, alles soll hier einmal möglich sein“, sagt Schmerberg, „das ist kein Haus für eine bestimmte Zielgruppe, sondern eine riesige Box für Inhalte aller Art, ein grenzenloses Spielfeld.“ Mahalla hat Schmerberg es genannt – in Südosteuropa und in islamischen Ländern Asiens und Nordafrikas die Bezeichnung für ein Stadtviertel mit eigener Verwaltung. Schmerberg spricht davon, „Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen“ ermöglichen zu wollen. Und zwar in erster Linie den Besuchern und Besucherinnen seiner Halle. Es klingt aber durchaus so, als adressiere er diese Wünsche auch an sich selbst.
Für vorerst 30 Jahre hat Schmerberg den Ort gemietet und dafür mit einem „Netzwerk von Leuten“, wie er sagt, eine GmbH & Co KG gegründet. Millionen Euro haben er und seine Geschäftspartner bereits in das Projekt investiert, weitere werden folgen. Seit gut zwei Jahren haben sie auch mit Veranstaltungen losgelegt, soweit diese möglich waren während der Lockdownphasen. Das Ritualmusikensemble Music Ashram, dessen Konzerte eher Zeremonien gleichen und bei dem er selbst Mitglied ist, trat mehrfach auf. Der Kiezsalon, eine nomadisierende Berliner Konzertreihe für Avantgardemusik, gastierte bei ihm und der Street-Art-Künstler Jim Avignon stellte kürzlich in der ehemaligen Turbinenhalle aus. Dazu Yoga-Workshops und Kunstperformances.
Da der Brandschutz noch Mängel aufweist, sind bei Events aktuell nur 199 Besucher erlaubt. Wenn die Mängel behoben sind, sollen Veranstaltungen für bis zu 2500 Menschen möglich sein. Wann das so weit ist, kann Schmerberg selbst nicht sagen. Den derzeit grassierenden Baustoff- und Handwerkermangel spürt auch er. „Alles geht gerade langsamer voran als erhofft“, sagt er.
Man bekommt nun eine Tour von ihm durch sein Haus. Bewegt sich durch die verwinkelte Architektur und durch allerlei rohe, unverputzte, leer stehende Räume. Hier könne er sich ein Restaurant oder eine Bar vorstellen, sagt Schmerberg währenddessen, dort ein Café und in diesem Raum vielleicht ein kleines Kino. Da drüben einen weiteren Ausstellungsraum.
Ein Studio, in dem Kerzen produziert werden, gibt es bereits. Mehrere Ateliers sind an Künstler und Künstlerinnen vermietet, in einem Ladengeschäft verkauft jemand selbst designte Klamotten. Gleich daneben befindet sich eine Gemeinschaftsküche, in der Schmerbergs 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bekocht werden.
In der Haupthalle findet während unseres Rundgangs gerade ein Filmdreh statt. Fans der Band Rammstein werden auf Videos verewigt, eine Promotion-Aktion. Die rohe, kaputte Industriehalle wird regelmäßig als Kulisse für derartige Aktionen angemietet. Am Ende landet man im schummrigen Keller, wo an einer Stelle Musik aus den Boxen blubbert und an einer anderen ein Video-Still an die Wand projiziert wird. Für wen auch immer. Was hier so läuft oder einmal laufen wird? Das scheint Schmerberg selbst nicht so genau zu wissen. Er sagt aber, dass hier schon ziemlich wilde Partys stattgefunden hätten.
Er ist nun 57 Jahre alt und hat bereits eine erfolgreiche Karriere als Filmemacher hinter sich, hat Musikvideos für die Toten Hosen und die Fantastischen Vier gedreht sowie Werbeclips für Apple und Nike, allerlei Auszeichnungen inklusive. Aber er war schon immer auch ein Suchender, dem es nicht reicht, nur Karriere zu machen. Schon als Jugendlicher interessierte er sich für den Buddhismus und zog eine Zeit lang einem indischen Guru hinterher. So verwundert es auch nicht, dass er immer wieder davon spricht, sich in der Mahalla auch dem „Spirituellen“ widmen zu wollen.
Andere, die sich in seinem Alter noch einmal neu erfinden und nicht mit dem erreichten Status quo zufrieden geben möchten, reisen vielleicht mit dem Motorrad einmal um die Welt oder fangen an Bienen zu züchten. Er hat sich eben eine gewaltige Industriehalle zugelegt, die er wahrscheinlich bis an sein Lebensende zu einem Kulturzentrum weiterentwickeln kann. „Dabei dachte ich erst“, so sagt er, „ich will mich doch gar nicht an so eine Halle binden. Ich bin doch eigentlich ein global reisender Freigeist.“
Aber jetzt hängt er doch hier fest. „Ich habe mich verliebt in das Haus“, sagt er. Vor einem Jahr hat er selbst die Stadtmitte verlassen und wohnt nun mit seiner Familie sogar in Oberschöneweide. Die Mahalla lässt ihn so schnell nicht mehr los.
2. 11. Totenpicknick mit Music Ashram. Mahalla. Wilhelminenhofstr. 76 in Oberschöneweide
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