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Augenzeugenberichte im Ukraine-KriegBriefe, die sich im Innern stapeln

Unsere Autorin sammelt beruflich Berichte von Menschen über Krieg und Gefangenschaft. Nach Feierabend einfach abzuschalten, ist schwierig.

Manchmal weint am anderen Ende der Telefonleitung stundenlang eine Mutter Foto: Evgeniy Maloletka/ap

S eit Beginn des russischen Großangriffs habe ich Tag für Tag Zeugenaussagen von Ukrainern gesammelt, deren Angehörige in Gefangenschaft geraten sind, vermisst werden, aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sind. Ich trage sie zusammen und gebe sie an Menschenrechtsaktivisten und -organisationen weiter.

Война и мир – дневник

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Nach vier Interviews bin ich normalerweise wie betäubt. Aber für Pausen ist keine Zeit. Die Anzahl der Menschen, mit denen wir sprechen müssen, liegt schon bei über 500.

„Ich flehe Sie an, mir zu helfen, meinen Mann zurückzuholen. Zwei kleine Kinder warten auf ihn und vermissen ihn sehr.“

„Mein Bruder und seine Tochter werden vermisst: acht Jahre alt, Autismus. Das Mädchen spricht nicht.“

Anastasiia Opryshchenko

Jahrgang 1999, lebt in Kyjiw und ist Journalistin beim ukrainischen online-Portal Zaborona.com. Seit Kriegsbeginn arbeiten sie mit Menschenrechtlern zusammen. Ukrainer, die verschollene Angehörige suchen oder sie aus Kriegsgefangenschaft zurück holen wollen, wenden sich an die Journalisten per mail. Die Menschenrechtler entnehmen den mails bzw. anschließend geführten Interviews Informationen über Menschenrechtsverletzungen u.a., die Journalisten dokumentieren die Schicksale der Menschen.

„Im März meldete sich mein Sohn nicht mehr. Wir haben ein Video entdeckt mit Menschen, die aus dem Stahlwerk Azovstal kamen. Sagen Sie bitte, ob er es ist oder nicht. Wir müssen wissen, ob er noch lebt. Ich flehe Sie an.“

Viele denken, dass ich ihre Angehörigen finden kann. Andere, dass ich Leute aus der Gefangenschaft herausholen kann. Ich fühle mit jedem Einzelnen von ihnen. Zehnmal am Tag wiederhole ich: „Bitte verzeihen Sie mir, aber ich kann Ihren Sohn, Mann, Ihre Schwester, Ihr Kind nicht retten. Ich sammle nur Aussagen.“

Manchmal höre ich mir den ganzen Tag Aussagen von Gefangenen über ihre Foltererfahrungen an. Manchmal weint am anderen Ende der Telefonleitung stundenlang eine Mutter. Es ist schrecklich, in den Zuschriften den Namen oder das Foto eines Bekannten zu entdecken. Es ist schwierig, wenn nach dem Wort „vermisst“ das Wort „Mariupol“ steht. Du weißt nicht, ob in dieser Stadt überhaupt noch Menschen am Leben sind. Am schmerzlichsten ist es, wenn ein Brief uns informiert, dass ein ukrainischer Soldat in Gefangenschaft getötet wurde und die weitere Suche nach ihm vergeblich ist.

Doch neben alldem gibt es Momente des Glücks: Inmitten der Briefe eine kurze persönliche Mitteilung: „aus der Gefangenschaft zurückgekehrt“ oder „am Leben, wir haben ihn in einem Video entdeckt“. Ich wusste vorher nicht, dass man von Texten umarmt werden kann.

Alle diese Briefe stapeln sich in meinem Inneren, ohne dass sie eine Möglichkeit haben, dort herauszukommen. Abends schalte ich den Computer aus, gehe mit dem Hund spazieren, vertiefe mich in ein Buch. Bei mir ist alles in Ordnung. Alle meine Angehörigen, Freunde und Bekannten sind zu Hause. Sie werden nicht vermisst, sind nicht gestorben und nicht in Gefangenschaft.

Aber jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie: die Fotos, Namen und Lebensgeschichten der Menschen aus meinen Briefen auf der anderen Seite meiner Augenlider.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgegeben.

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