: Ohne Sinn und Tadel
Gut 60 Jahre nach Entstehung findet Wassili Grossmans Roman „Leben und Schicksal“ den Weg in Bremen auf die Bühne. Armin Petras’ Fassung wirkt so genial wie verzichtbar
Von Jan-Paul Koopmann
Ein Getto in der Ukraine, ein Straflager in Sibirien, ein KZ in Deutschland: Es sind die Internierten, um die es hier geht, und um jene politischen Systeme, unter denen man sie eingesperrt hat. Wie Knotenpunkte eines Netzes verdichten sich diese Nichtorte in Wassili Grossmans großem Roman „Leben und Schicksal“: Weit mehr als nur Schauplätze der Handlung, werden sie zunehmend selbst zu ihrem Gegenstand – als Teil einer Beweisführung, oder wenigstens des immer handfester werdenden Verdachts, dass Hitler und Stalin sogar noch weit mehr gemeinsam haben als ein paar Hundert Baracken und tonnenweise Stacheldraht.
Vom KGB beschlagnahmt und für Jahrzehnte weggeschlossen, war der nun von Armin Petras fürs Theater aufbereitete Roman von Anfang an ein Politikum. Auch weil Grossman so genau wusste, wovon er sprach: Seine Berichte über das Vernichtungslager Treblinka zählten 1943 zu den ersten Augenzeugenberichten der Shoah. Als Kriegsreporter war er mit der Roten Armee unterwegs, sah nicht nur die deutschen Lager, sondern dokumentierte auch die Schlachten um Moskau, Stalingrad, Kursk und Berlin.
Spätestens als die Partei sein mit dem Jüdischen Antifaschistischen Komitee erstelltes Schwarzbuch über die Vernichtung der sowjetischen Juden einstampfte, werden seine Zweifel am Stalinismus konkret – eine Erfahrung, die sich nun auch in den literarischen Bearbeitungen seiner journalistischen Kriegstexte niederschlägt. Kurzum: Es ist ein Jahrhundertstoff, den Armin Petras hier für die Bühne dramatisiert hat. Der Text selbst ist ein Stück Weltgeschichte und ein Schlüsselmoment für die ideologischen Umwälzungen im Sowjetreich.
Zumindest technisch gelingt die Adaption verblüffend gut, geradezu grandios: Petras verdichtet den rund 1.000-seitigen Text auf einen dreieinhalbstündigen Theaterabend und transportiert erfolgreich den wesentlichen Gehalt. Mehr als 30 Figuren bringt er ins Spiel und bewahrt auch die für den Roman so wesentliche Gleichzeitigkeit des Geschehens. Da sitzt die eigentlich im Getto weilende Mutter plötzlich in Moskau auf dem Sofa. Oder Familienvater Vitja muss beim eiligen Gang durch die gute Stube einem Panzerfahrer ausweichen, der zwischen Perserteppich und Bühnenaufgang gerade ruckelnd und zuckelnd den Befreiungsschlag auf Stalingrad einläutet.
Im Hintergrund dreht sich ein Pfahlbau auf Peta Schickarts Bühne, voller Streben, Leitern und Plattformen. Hier wird sinnlos gesägt, gehämmert, mit der Axt geschlagen und manchmal auch wer ermordet. Es ist das Arbeitslager, das hinter allem auf alle wartet, während im Vordergrund eine Familiengeschichte um den jüdischen Physiker Strum Philosophie, Naturwissenschaft und Ideologiegeschichte zugleich zu durchdringen versucht.
Das klug gebaute Stück trifft hier auf ein erstklassiges Bremer Ensemble. Während ganz besonders Alexander Swoboda und Ferdinand Lehmann eine spleenige Leichtigkeit und charmanten Witz an die Moskauer Heimatfront bringen, exerziert Fania Sorel die Einbrüche der Kriegsgräuel am eigenen Körper durch, lässt immer wieder die Beine ihren Dienst versagen, wenn vom toten Sohn die Rede ist.
Aber während auch die anderen gekonnt die Untiefen ihrer je zahlreichen Rollen ausloten, drängt sich mehr und mehr die Frage auf, was all die Mühen und all die Kunstfertigkeit nun eigentlich sollen.
Die von Rafael Ossami Saidy per Video auf die Bühne geholten Kriegsgräuel zwischen Patriotismus und Überleben haben Film und Fernsehen andernorts bis zum Exzess ausgewalzt. Stalins Terror leugnet längst auch kein Kommunist mehr und an der Thematisierung der Shoah haben seit Grossman jahrzehntelange Debatten über Darstellbarkeit, Verantwortung und Zeugenschaft ihre Spuren hinterlassen. Wäre nur der für Grossman so zentrale Nachrichtenwert verloren, ließe sich damit freilich leben. Ärgerlicher sind die Unschärfen in Petras’ Ideologiecollage. Unklar bleibt etwa, warum es einen im sibirische Lager schmutzig und blutig durch den Wolf dreht, während die deutschen meist schlicht schwarz und steril erscheinen – und ihr Wachpersonal so adrett, so sexy?
Hier wird einmal Siegfried W. Maschek als linientreuer Kommunist von SS-Schurkin Karin Enzler belehrt: Selbst wenn die Sowjets den Krieg gewännen, „werden wir zwar untergehen, aber in ihrem Sieg weiterleben“. Was ist das nun? Zum Tanzen gebrachte Totalitarismustheorie? Ein Theater gewordenes Hufeisen? Ein fieser Foltertrick der Nazis innerhalb der Erzählung? Oder doch nur eine windschiefe Pointe?
Klar darf Theater Fragen aufwerfen, ohne Antworten mitzuliefern. Wahrscheinlich muss es das sogar. Nur ist gerade diese Frage weder neu, noch mangelt es unserer ach so post-ideologischen Gesellschaft an so entschlossenen wie falschen Antworten. Daran macht dieser Abend am Goetheplatz nichts besser oder verständlicher. Der ist einfach nur spitzenmäßiges Theater.
Leben und Schicksal, Theater Bremen, Großes Haus, wieder am 8. 10., 18 Uhr, sowie am 14. 10. und 9. 11., 19 Uhr
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