50 Jahre AJZ Neumünster: „Wild und ein bisschen ranzig“
Das Autonome Jugendzentrum in Neumünster wird 50 – wie viele andere Jugendhäuser auch. Ein Blick zurück und nach vorn: Wie wichtig sind sie heute?
Und heute? Das AJZ, das zu den ältesten autonomen Jugendzentren Deutschlands zählt, sei „zahmer geworden“, findet Wadle. Diese Haltung vertreten mehrere der Aktivist*innen der Jugendzentrumsbewegung der 1970er Jahre. Aber vielleicht sehen die aktuellen Kämpfe einfach nur anders aus als damals?
Die mit bunten Graffiti bemalte Fassade des AJZ leuchtet in einer ansonsten grauen Straße. Ein Drache schlängelt sich über die Wand, eine Taube mit Regenbogenschal, ein Flamingo. Das AJZ ist in einem ehemaligen Kino untergebracht, das „Astoria“ hieß. Das Gebäude liegt hinter dem Hauptbahnhof, einerseits sehr zentral, andererseits in einer Ecke der Stadt, die nicht sonderlich attraktiv ist.
Neumünster ist keine reiche Kommune, und in dem Viertel rund um das AJZ prallen die Gegensätze und die politischen Lager aufeinander. Direkt um die Ecke drehen sich die Kebab-Spieße im Pascha-Imbiss, daneben beten in einer kleinen Moschee die Mitglieder der Islamischen Gemeinde Neumünster. Jenseits der Straßenkreuzung lag viele Jahre die Kneipe „Titanic“, ein bekannter Treff der rechten Szene, die in Neumünster stark ist und durch Verflechtungen mit Rockerbanden in den vergangenen Jahren noch größer geworden ist. Linke und Rechte, Punks und Skins quasi Tür an Tür – die Wachdienste, die Wadle beschreibt, waren bitter nötig.
Diskussion im AJZ: „Welche Bedeutung hat selbstverwaltete Jugendarbeit in Gebieten rechter Hegemonie und wie können Antworten auf Widerstände aussehen?“
Um diese und andere Fragen geht es am Freitag, 30. September, ab 19.30 Uhr bei einer Podiumsdiskussion im AJZ Neumünster, Friedrichstraße 25. Dabei sind Ehren- und Hauptamtliche aus dem AJZ von früher und heute sowie Tobias Burdukat, Initiator des Dorfs der Jugend im sächsischen Grimma.
Typisch und untypisch zugleich
Das AJZ in Neumünster ist typisch und untypisch zugleich für die autonomen Zentren, die vor gut einem halben Jahrhundert bundesweit entstanden. Schleswig-Holstein war neben Baden-Württemberg eines der „Epizentren“ der Bewegung, sagt Tobias Frindt, der in seinem Film „Freie Räume“ von 2019 die Geschichte der autonomen Treffs untersucht und selbst in Mannheim aktiv war. Ein Ergebnis seiner historischen Spurensuche lautet, dass jedes Zentrum seine eigene Geschichte schrieb. Dennoch gibt es einige Merkmale, die viele der Häuser teilen.
Typisch ist Neumünsters mittlere Größe: rund 90.000 Menschen lebten 1970 in der kreisfreien Stadt im Zentrum von Schleswig-Holstein. Eine Uni gab es nicht, Neumünster war eine Arbeiterstadt, die nach einem Aufschwung im Wirtschaftswunderdeutschland ab 1960 den Niedergang erlebte. Die Tuchfabriken und Gerbereien, für die die Stadt berühmt gewesen war, schlossen eine nach der anderen, weil Stoffe aus dem Ausland billiger waren als deutsche Wertarbeit. Dennoch gab es viele Lehrlinge, und die trugen in Neumünster den Kampf um einen eigenen Jugendtreff aus.
Heiner Wadle war weder Lehrling, noch stammte er aus Neumünster. Der gebürtige Kieler wuchs im Arbeiterbezirk Gaarden auf, sein Vater arbeitete bei der Howaldt-Werft und engagierte sich als Betriebsrat. Anfang der 70er Jahre zogen die Eltern nach Neumünster. Es war eine Phase der Umbrüche, „eine völlig andere Zeit“, erinnert sich der heute 72-Jährige.
Sieg auf der ganzen Linie
Vor 50 Jahren war er bereits Student und durch sein Elternhaus politisiert. Er trat dem Kampf der Schüler*innen und Lehrlinge für den eigenen Jugendtreff bei, aus ganz praktischen Gründen: „Kneipen waren teuer, Discos gab’s noch nicht“, sagt er. „Wir wollten etwas haben, wo wir uns treffen und organisieren konnten.“ 1970 gingen die Jugendlichen auf die Straße, 1972 erhielten sie das leerstehende Kino hinter dem Bahnhof als ihren Treffpunkt – Sieg auf der ganzen Linie.
In anderen Städten trugen Studierende den Protest, in manchen Städten waren es Schüler*innen, vor allem männliche Gymnasiasten: „Das war von Ort zu Ort ganz verschieden“, sagt Frindt. Aber egal wer den Ton angab, „die Zentren waren melting pots, in denen sich alle Gruppen trafen.“
Das gelte immer noch, sagt Sebastian Würtz, der heute als Sozialpädagoge in Neumünster für das Nachmittagsprogramm und die Kinderbetreuung zuständig ist: „Viele Kinder aus dem Viertel, die unsere Angebote nutzen, stammen aus prekären Verhältnissen.“
Die „vermummten Horden“ der NPD
Aber auch für Oberschüler*innen oder Auszubildende war und ist das Haus ein wichtiger Treff – und „einer der wenigen Orte, wo linke Jugendliche hingehen können“, sagt Annick. Die 38-jährige Neumünsteranerin hielt sich zwischen 1999 und etwa 2004 regelmäßig im AJZ auf, heute besucht sie ab und zu noch Konzerte. Als „wild“ und „ein bisschen ranzig“ beschreibt sie das Haus. Aber dass das AJZ ein Treff für gewaltbereite, „vermummte Horden“ sei, wie ein NPD-Stadtrat vor einigen Jahren behauptete, darüber kann sie nur lachen.
Tatsächlich hat das AJZ, wie die meisten der heute noch bestehenden Treffs, inzwischen eine feste Struktur, einen Trägerverein, der den Kontakt zur Stadtverwaltung hält. Auch das ist eher typisch, sagt Frindt: „Es gibt bundesweit nur wenige Häuser, die komplett autonom sind, wenn es Aktivist*innen gibt, die das tragen.“
Knapp 100.000 Euro erhält der Verein Aktion Jugendzentrum e. V. von der Stadt Neumünster, vor allem für die Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Parallel steht das Haus allen Jugendlichen offen, die sich „zum Musikmachen, Sprayen, Schrauben, Kochen, Diskutieren und Politikmachen treffen wollen, so steht es auf der Homepage. An den Wochenenden gibt es unkommerzielle Veranstaltungen, vom Poetry Slam bis zum Punkkonzert. Die Scorpions und Fettes Brot haben schon mal im Haus gespielt, heute kommen eher lokale Bands, viele aus der Punk-Szene, die Namen wie „Schaisze“ oder „Frevel“ tragen.
Dafür auch noch öffentliches Geld? Skandalös, findet die NPD, die in Neumünster im Stadtrat sitzt. Schließlich sei das AJZ ein Treffpunkt der „linksextremistischen, kriminellen Vereinigung“ Antifa, deren Mitglieder „Polizisten angreifen und vor schweren Straftaten nicht zurückschrecken“. Ob es „im Sinne des Erfinders“ sei, darüber sollten sich „die normalen Bürger Gedanken machen“, sagte der NPD-Mann in einem Youtube-Video.
Ein neu gegründetes Projekt
Mit Kritik von ganz rechts können die autonomen Zentren gut leben – aber in vielen Orten gibt es bis heute auch Spannungen mit bürgerlichen Parteien wie der CDU, deren Mitglieder oft die Stadträte dominieren. Das bekam etwa das „Dorf der Jugend“ im sächsischen Grimma zu spüren, ein neu gegründetes Projekt, das zwar als „Leuchtturm“ im Kampf gegen rechts in der ostdeutschen Provinz gilt, aber dennoch vor einigen Jahren Probleme hatte, die Finanzierung zu sichern.
Denn vielen Stadträten ist das Chaotische, die Selbstorganisation ein Dorn im Auge. Doch die basisdemokratischen Vollversammlungen, in denen alle Jugendlichen mitreden dürfen, bilden nun einmal das höchste Gremium. Daran erinnert sich auch Annick: „Wie das mit dem Trägerverein lief, hat man kaum mitbekommen. Wichtig war die Vollversammlung.“ Die heißt in Neumünster „Besucher*innen- und Mitarbeiter*innentreffen“, kurz BUMT.
Dort ist auch Linn regelmäßig dabei, eine der heute Aktiven. Die 23-Jährige steht im ehemaligen Kinosaal in der Mitte des Hauses. Statt der Sitzreihen stehen durchgesessene Couchen um kleine Tische, vor einem Tresen warten Billardtische und Kicker. Ausgeschenkt werden Getränke zum Selbstkostenpreis, die Arbeit machen Ehrenamtliche wie Linn. Zuerst kam sie als Besucherin, ein Techno-Konzert war die erste Veranstaltung, dann folgte ein Poetry-Slam, berichtet die Auszubildende: „Mir gefällt, dass es ein geschützter Raum ist.“
Das AJZ versteht und verstand sich als offener Ort. Diskriminierungsfrei, ohne Rassismus, ohne kulturelle Scheuklappen – na klar. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke, jedenfalls aus Sicht einer Schwarzen Deutschen: „Das war kein Ort für uns, kein Ort, zu dem wir gingen“, sagt Aminata Touré. Die Eltern der Grünen-Politikerin und heutigen Sozialministerin von Schleswig-Holstein stammen aus Mali, Touré wurde 1992 in einer Geflüchteten-Unterkunft in Neumünster geboren und wuchs in der Stadt auf.
Aminata Touré ging nicht ins Jugendhaus
Das AJZ besuchten weder sie noch ihre ältere Schwester. „Vielleicht wäre alles gut gewesen, wenn wir einfach reingegangen wären“, sagt sie heute. Aber damals sei es ihnen nicht so vorgekommen: Etwas an dem Haus, an der Haltung derer, die sich dort aufhielten, war „exkludierend, ohne es zu checken“ – eine Haltung, die sie bei Linken oft erlebt habe, sagt die 29-Jährige. Es habe an der Sprache gelegen, auch an der Mode.
Als Beispiel nennt Touré, dass eine Zeitlang linke Punks Glatze und Springerstiefel trugen: „Schon okay, dass sie den Neonazis solche Symbole wegnehmen, aber für eine Schwarze Person ist das nachts auf einer einsamen Straße nicht so einfach, die Zeichen genau zu kapieren.“
Annick, die dieselbe Schule besuchte wie die heutige Ministerin, glaubt nicht, dass die Hautfarbe ein Kriterium sei: „Im AJZ trifft sich halt eine spezielle Szene, und die muss man mögen – mit lauter Musik und billigem Bier, das gehört alles dazu.“
Filmemacher Tobias Frindt gibt beiden recht: „Der linke Zeitgeist war und ist klar gegen Diskriminierung. Ob das aber auch so rüberkam, ist eine ganz andere Frage.“ Auch die Zentren spiegelten die Veränderungen in der Gesellschaft wider: In den Anfangsjahren um 1970 gab es weniger Jugendliche mit Migrationshintergrund als zu seiner aktiven Zeit oder heute, und „die Milieus sind nicht mehr so getrennt“, meint er.
Braucht es noch einen Treff vor Ort?
Politisch sein und Haltung zeigen, gegen rechts, gegen Atomkraft, für Klimaschutz, gehört für viele Jugendliche, die sich im AJZ versammeln, dazu. Aber der Alltag sieht prosaischer aus, und das war schon vor 50 Jahren so, sagt Wadle: „Zu den Feiern kamen immer viele Leute, aber für die tägliche Arbeit nicht so viele.“
20 bis 30 Kinder kommen pro Tag ins Haus, dazu 15 bis 20 Jugendliche, berichtet Sebastian Würtz, der hauptamtliche Sozialarbeiter. Die Coronalockdowns haben für einen Knick gesorgt, die Jugendlichen müssen sich erst wieder an die Angebote gewöhnen. Viele organisieren sich eher in virtuellen Räumen.
Aber braucht es dann noch einen Treff vor Ort? Wadle führt in das Internetcafé des Hauses, einen Raum mit langen Tischen und einigen Rechnern darauf. Egal wie verbreitet Smartphones seien, der Zugang zum Netz sei eben doch nicht für alle selbstverständlich. Und auch Beratungsangebote und die Chance, einen Treff jenseits der engen Wohnung zu haben, seien für viele wichtig, sagt der 72-Jährige, der lange nach seiner aktiven Zeit noch im Vorstand mitarbeitete, inzwischen aber die Aufgabe den Jüngeren überlässt.
Die haben viel vor: Das AJZ soll umziehen. Schließlich wurde es vor 50 Jahren nur „vorläufig“ in dem alten Kino hinter dem Bahnhof untergebracht. Seit Jahren laufen die Planungen für die Neueröffnung in einer alten Fabrik, rund einen Kilometer vom heutigen Standort entfernt. Mehrere Millionen Euro kostet die Sanierung des Gebäudes, in das auch andere Projekte einziehen sollen.
Aber die Arbeiten verzögern sich – die AJZ-Aktiven müssen sich noch eine Weile weiter durchwurschteln, wie schon seit 50 Jahren.
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