Shortlist für den Deutschen Buchpreis: Heldinnen, Herkünfte und Trottel
Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis ist veröffentlicht worden. Darunter ist auch der Familienroman „Dschinns“ von taz-Redakteurin Fatma Aydemir.
Aus Anlass der aktuellen Shortlist kann man daran erinnern, dass beim Deutschen Buchpreis keineswegs der „beste“ Roman des Jahres ausgezeichnet werden soll, wie oft behauptet wird, sondern der „Roman des Jahres“, ohne „beste“. Wer immer diese Formulierung für die Statuten des Preises fand, er oder sie hat ein gutes Werk getan.
Einen „besten“ Roman kann es gar nicht geben, denn dafür gibt es einander widerstreitende Kriterien. Einen „Roman des Jahres“ kann es aber schon geben; man muss sich nur drauf einigen. Und genau diesen Einigungsprozess soll – oder vielleicht besser: könnte – der Buchpreis repräsentieren, mit allem damit verbundenen Einleuchtenden und allen Fehlurteilen.
Jenseits der Frage, ob man einverstanden ist oder nicht, ließen sich dabei zuletzt zwei durchgängige Hintergründe ausmachen. Im ersten geht es um die vor allem vom Buchmarkt, aber auch von vielen Leser*innen, an den Preis herangetragene Sehnsucht, einen Roman zu finden, der übersetzungsfähig ist und in den man eintauchen kann wie in einen, sagen wir, Franzen oder Ferrante, realistisch erzählt und populär halt (der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler hat in seiner gerade herausgekommenen Studie „Populärer Realismus“, C. H. Beck, viel dazu zu sagen). Und seit Jahren hält die alljährlich wechselnde Buchpreisjury oft tapfer dagegen, indem sie auch Außenseiter auszeichnet oder von ihrem literarischen Verfahren lebende Bücher prämiert wie 2020 etwa Anne Webers Versepos „Annette“.
Der zweite Kontext bezieht sich auf die Frage, ob allein literarische oder auch gesellschaftliche Kriterien zählen sollen – oder, besser formuliert: in welchem Licht die jeweiligen literarischen Kriterien beleuchtet werden sollen. Hier ist Bewegung reingekommen. In einer Gesellschaft, in der nach 1990 zwei politische Systeme zusammenwuchsen (oder eben nicht), sind andere Romane als interessant aufgefallen, als sie es heute tun, da es um Fragen von Diversität und Identität geht – und jetzt ganz aktuell ein Krieg in Europa alle Überlegungen tangiert.
Wichtig ist, es geht dabei eben nicht um „Themen“ versus Literarizität, sondern darum, wie zu schreiben ist. Und es ist eben kein außerliterarischer Aktivismus, wenn man feststellt, dass man bei literarischen Urteilen besser auch den Raum wahrnimmt, in dem man sie fällt. Ein „Roman des Jahres“, der nicht – und sei es auf verborgene Weise – mit einem aktuellen Stand von menschlichem Selbstverständnis kommuniziert, ist mindestens verschenkt. Das gilt auch „nach Adorno“.
Autofiktional grundiert
Wie verhält sich die aktuelle Shortlist zu diesen Hintergründen? Tatsächlich könnte man sagen, dass sie etwas den aktuellen gesellschaftlichen Raum zu ertasten Suchendes hat.
Fatma Aydemir (Glückwunsch an die taz-Kollegin!) beschreibt in „Dschinns“ die Trauerarbeit und die sozialen Rollen einer deutsch-türkischen Familie zwischen Deutschland und Istanbul. Kristine Bilkau erzählt in „Nebenan“ von der Dünnhäutigkeit der Beziehungen in der deutschen Provinz. Daniela Dröscher zeichnet, autofiktional grundiert, das Frauenleben ihrer Mutter in der alten Bundesrepublik als ambivalente Heldinnengeschichte nach.
Jan Faktor schreibt in „Trottel“ seine Biografie zwischen Prag und Ostberlin in die Umwälzungen rund um den Niedergang des Sozialismus ein (oder andersherum). Kim de l’Horizont geht, sich selbst als nonbinär verstehend, in ihrer Herkunftsrecherche „Blutbuch“ den mütterlichen Stammbaum über viele Generationen zurück.
In diesen Romanen geht es viel um soziale Nahbeziehungen: Eltern, Familien, Herkünfte, Nachbarn, eingebunden in ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eckart Nickel dagegen besetzt mit seiner akkurat an allen Gegenwärtigkeiten vorbeigesetzten biedermeierlichen Ästhetizismusstudie „Spitzweg“ eine Position, die sich gegen alle anderen abhebt auf der Shortlist. Gegenwart? Nicht so mein Ding, könnte man bei Nickel sagen.
Und während Aydemir, Bilkau und Dröscher auf jeweils unterschiedliche Art eher dem Realismuspol zuzuordnen sind, ist bei l’Horizont und Faktor das literarische Verfahren auffällig. Faktor übergießt seine Erinnerungen mit einer verspielt sein wollenden und tatsächlich eher verkünstelten Suada (nicht mein Favorit auf der Liste). L’Horizonts „Blutbuch“ dagegen ist ein wilder erzählerischer Ritt durch Bewusstseinsströme und Dokumente. Am 17. Oktober wird der Deutsche Buchpreis vergeben.
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