Spaziergang mit ehemaligen Wohnungslosen: Wie man sich bettet
Wie die Straße das Leben derer prägt, die auf ihr leben, ist vielen wahrscheinlich nicht bewusst. Ein Spaziergang mit einem ehemaligen Obdachlosen.
A ngenommen“, sagt Dieter Bichler, ehemaliger Obdachloser und Stadtführer bei querstadtein, „ein Obdachloser hätte die Wahl: Apfel, Schokolade, Bratwurst, Müsli. Was würde er wählen?“ „Schokolade“, glaubt die Mehrheit. „Apfel“, ruft jemand.
Die meisten Obdachlosen, sagt Dieter und verkündet, dass er Siezen ätzend findet, hätten weniger Zähne im Mund als er. Was Schokolade anginge: Jeden Winter sehe er Obdachlose ihre Vorräte an Schokonikoläusen stapeln: „Obdachlose werden überhäuft mit Schokolade. Die wollen die gar nicht mehr.“ Bratwurst, lautete die Antwort: eine weiche, warme Speise, die lange satt halte. „Außerdem ist Fett ein exzellenter Geschmacksträger.“
Richtung Fasanenstraße schreitet er voran, die rund zehnköpfige Gruppe aus Rentner:innen, Student:innen, Omas mit Enkelsöhnen, Ärztin und Marketing-Managerin folgt. Dabei teilt Dieter, der 2012 nach Eigenbedarf-Anmeldung seiner Vermieterin am Bahnhof Zoo gestrandet war, Fundgeschichten mit seinem Publikum:
Die erste handelt von einem millionenschweren CDU-Politiker, der gern im Privatflugzeug zu Hochzeiten fliegt, sich selbst als „gehobene Mittelschicht“ bezeichnet und dem Obdachlosen, der am Bahnhof Zoo seinen Laptop gefunden hatte, zum Dank eines seiner Bücher hinterlassen habe. Gregor Gysi sei da schon großzügiger gewesen: Er habe dem Obdachlosen, der sein Portemonnaie gefunden und zum Bundestag gebracht hätte, 450 Euro in die Hand gedrückt.
Hans Nagel-Skulptur als Wäschetrockner
Angekommen vor der Zentralbibliothek der TU fragt Dieter nach dem in Kleiderkammern meistgesuchten Kleidungsstück: „Socken“, errät jemand, und Dieter teilt einen Lifehack: „Zwei löchrige Strümpfe übereinander ergeben einen heilen.“
Kaum hat er auf die bis dahin unerkannte Funktion der schwarzen Skulptur von Hans Nagel vor dem UdK-Konzertsaal als Wäschetrockner hingewiesen, wartet Dieter bereits mit dem nächsten Rätsel auf: „Wer hat vor 150 Jahren das Sprichwort,Kleider machen Leute' erfunden? Niemand?“
Dieter grinst zufrieden: „Nur vier von tausend haben das gewusst bisher.“ Dieter gibt Tipps: Schweiz. Anfangsbuchstaben G. K. Eine Schülerin hätte neulich Karl Lagerfeld gesagt. „Gottfried Keller“, ruft Dieter, ehe er im Affenzahn über die Ampel saust.
Während seiner zweistündigen Stadtführung „Obdachlos auf schicken Straßen“ macht er Teilnehmer:innen auf Dinge aufmerksam, die sie für gewöhnlich nicht wahrnehmen: warme Gesäße durch Lüftungsschächte, öffentliche Toiletten, Beschaffenheit von Bänken, systematisches Schwarzfahren als Überwinterungsstrategie.
Im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt
Die Veränderung der Stadt bemisst er auch am Steinplatz: „Die Hecke steht nicht mehr. Die meisten alten Bäume wurden abgeholzt. Heute schläft hier kein Obdachloser mehr, weil nichts mehr ihn schützt vor Lärm, vor Sicht, vor Witterung.“ Gerundete Bänke mit montierten Eisenkugeln hielten nicht nur Skater, sondern auch Obdachlose fern: „Das ist gewollt“, meint Dieter. „Die Betonflächen sind im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt.“
Weiter Richtung Kantstraße, zum ehemaligen Stilwerk: Zusammen mit dem Direktor der Schaubühne habe er bereits 2014 in einer „Nacht des Schlafens“ auf die gravierenden Unterschiede beim Schlafen in einem Umkreis von kaum zwei Kilometern aufmerksam gemacht: Nachtlager aus Isomatte, Schlafsack und zweilagiger Gemüsekisten-Pappe versus sich betten auf Betten zwischen acht- und achtundneunzigtausend Euro.
Ein Satz aus jener Nacht, erzählt Dieter, sei ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Lattenrost und Matratzen“ habe noch an der teuersten, aus Marmor gefertigten, mit Swarovski-Steinen veredelten Schlafstatt gestanden, „nicht im Preis inbegriffen“.
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