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Ende des 9-Euro-TicketsKomm bald wieder!

Die Realität kann manchmal hart sein, also: Das 9-Euro-Ticket ist Geschichte. Viele Menschen lässt das traurig zurück. Ein persönlicher Abschied.

Auf ein Wiedersehen Foto: IMAGO/Markus Forte

Liebes 9-Euro-Ticket, ich hasse Abschiede, nur Abschiedsbriefe hasse ich noch mehr, aber dich kann ich nicht alleine mit einer Umarmung und Tränen gehen lassen. Dafür hast du mir und vielen anderen zu viel bedeutet.

Du bist ein Frühlingskind. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich die erste Nachricht von dir bekam. Ohne Witz, ich konnte es erst gar nicht glauben, als die Meldung auf meinem Bildschirm aufploppte. Die Ampel-Parteien hätten sich auf dich geeinigt, stand da Ende März. Manchen, auch mir, schoss gleich die Frage durch den Kopf: Warum nur für die Monate Juni, Juli und August? Warum nicht für immer?

Für die Bundesregierung, die damals das zweite Entlastungspaket angesichts der sozialen Folgen der Ukrainekrise auf den Weg brachte, magst du ein kleiner Schritt gewesen sein. Für viele Menschen, für die Idee von Demokratie, gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit und für das Klima warst du aber ein riesengroßer. Ja, ich weiß, nicht alle sehen das so.

Manche sind froh, dass sie dich jetzt los sind. Sie haben behauptet, du würdest eine „Gra­tis­mentalität“ befeuern – was auch immer das bedeutet. Dass dieser Vorwurf von Ministern solcher Parteien kommt, die Menschen vertritt, die sich nie über etwas freuen konnten, das es gratis gegeben hat, weil sie ohne eigenes Zutun immer mehr als genug von allem hatten und deshalb nie auf „gratis“ angewiesen waren; Menschen also, für die „gratis“ deshalb ein Schimpfwort zu sein scheint – das sagt jedenfalls schon viel über diesen Vorwurf.

Gesellschaftliche Ressourcen

Diese Leute sind nicht nur beim Thema Mobilität so drauf, auch bei anderen gesellschaftlichen Ressourcen setzen sie sich gegen deren gerechte Verteilung ein, weil ihr Reichtum auf ungerechter Verteilung basiert. Nimm dir ihr Gerede deshalb bitte nicht zu Herzen, liebes 9-Euro-Ticket.

Andere aber streiten darüber, ob du denn nun die Aufgabe erfüllt hast, deren Erfüllung sie sich von dir erhofft haben; dass du nämlich die notwendige Verkehrswende vorantreibst, also die Menschen dazu bringst, vom Auto auf die Bahn umzusteigen. Sie argumentieren mit vorläufigen Studienergebnissen, die unterschiedliche Antworten andeuten.

Du kannst sicher wie ich nachvollziehen, dass das eine wichtige Frage ist. Es ist auch begrüßenswert, dass diese Menschen sich in ihrer Auseinandersetzung über dich um Fakten bemühen – und sich nicht wie die Ersteren allein an ihren Ressentiments orientieren. Aber ich verstehe auch, wenn es dich kränkt, dass sie dich auf den Aspekt Klima reduzieren, dich allein als Experiment sehen. Ich kann dir versichern: Viele andere und ich sehen dich als Anfang von etwas Neuem, als Realwerden des scheinbar Undenkbaren, als gelebte Utopie. Warum? Weil du, zumindest im Bereich Mobilität, gezeigt hast, dass eine gerechtere Gesellschaft trotz vermeintlicher monetärer Sachzwänge im Hier und Jetzt praktikabel ist.

Auch wenn du jetzt gehen musst, diese egalitäre Erfahrung wird bleiben. Menschen zeigten sich selbst in vollen Zügen glücklich über dich, sie machten Platz füreinander, halfen einander mit dem Gepäck – weil sie wussten, dass du vielen, die es sich sonst nicht leisten können, Reisen ermöglicht hast. Das habe ich oft erlebt, auch als ich dich das erste Mal gelöst und aus Euphorie eine 13-stündige Fahrt von Berlin nach Bayern auf mich genommen habe, obwohl ich es mir mittlerweile leisten kann, mit dem ICE zu fahren.

Aus Prinzip

Ich habe mich aus Prinzip für dich entschieden. Ob im Regionalzug oder morgens in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit – in den drei Monaten mit dir habe ich mich oft an jugendliche Bahnfahrten ohne gültigen Fahrschein erinnert, vor allem an die Angst dabei. Daran, dass ich das Geld für die Schülermonatskarte, das für meine Familie viel Geld war, immer wieder als Taschengeld zweckentfremdet habe, weil ich sonst an mancher Unternehmung mit Freun­d:in­nen nicht hätte teilnehmen können.

Ich bin überzeugt, dass die sehr kurze Erfahrung mit dir in Zukunft nicht allein als Material nostalgischer Anekdoten dienen wird. Menschliche Erfahrungen waren für gesellschaftliche Entwicklungen schließlich schon immer entscheidender als politische Parolen und Parteiprogramme. Deshalb, liebes 9-Euro-Ticket, mach’s gut und bis ganz bald wieder!

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8 Kommentare

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  • Volkan Agar (taz): "Viele andere und ich sehen dich als Anfang von etwas Neuem, als Realwerden des scheinbar Undenkbaren, als gelebte Utopie. Warum? Weil du, zumindest im Bereich Mobilität, gezeigt hast, dass eine gerechtere Gesellschaft trotz vermeintlicher monetärer Sachzwänge im Hier und Jetzt praktikabel ist."

    Ja, das sehe ich auch so.

    Über die taz-Artikel von Volkan Agar freue ich mich immer, denn seine Worte geben einem das Gefühl, tatsächlich noch in der 'linken und sozialen taz' zu sein. Danke!

  • Hach ja. Zurück zum Leben mit viel weniger Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. War aber schön mal mehr unterwegs zu sein.

  • Schöne Ansicht, schöne Aussicht.

  • Dito und vielen Dank, ich plädiere für eine Modellregion zur sofortigen Evaluation, denn ich stelle folgende These auf: Klimaschutz verlangt nach dem Primat "freier(!) ÖPNV". Nach den Erfahrungen mit den Rohdaten der Pandemie können Statistiker:innen sicher schnell Trends und Potenziale errechnen und extrapolieren. Vielleicht schaffen die Willigen endlich die Koalition der Wirksamen. Autofreie Innenstädte, ein Kindheitstraum seit den Sechzigern mit Pseudocroup wegen Abgasemissionen. Ich baue hier auf die Profession der akademischen Modellierung, die TU Braunschweig hatte offenbar entsprechende Ressourcen.

  • Die Nutzung für Fernfahrten war ein Geburtsfehler des 9-Euro-Tickets und führte zu den viel beklagten Überfüllungen. Diese gab es zwar auch zu Ausflugszielen, vor allem aber auf Strecken in Parallelführung zu ICE-Linien.

    Die meisten Preise für Monatskarten sind für die Leistung in Ordnung. Überteuert sind Einzelfahrkarten, jedenfalls, wenn man nicht lange vorbucht und lästige Zugbindungen auf sich nimmt.

    Unsinn ist auch die Preisverdoppelung, wenn man Hin- und Rückfahrt auf zwei Tage verteilt und zwei Ländertickets benötigt.



    Der steife Mehrpreis für Einzelreisende bei Ländertickets führt dazu, dass man sich für Ausflüge ein paar Mitreisende sucht, von denen öfters einer sagen wird "Ach lass uns doch mit meinem Auto fahren".

    Ich bin für ein 9-Cent-Ticket, als Preis je km, z.B. 90 Cent innerorts (bis ca. 10 km), 9 Euro für Strecken um die 100 km (z.B. 75 bis 150 km), 9 Euro Hin und zurück bis 75 km.

    • @meerwind7:

      Klingt schon mal besser als die bisherigen Tarife. Jetzt brauchen wir noch funktionierende Hopper-Tickets, weil nicht alle Menschen morgens zur Schule/Arbeit hin und abends wieder zurück fahren und das war's. Man muss auch überlegen wie das Verhältnis von städtisch-innerorts zu den weiten Strecken von (fast) infrastrukturlosen ländlichen Gebieten in die Städte (und zurück) funktionieren kann.

  • Das 9-Euro-Ticket muss unbedingt weiter geführt werden, weil es dem Klima sehr nützt! Man sollte es jedoch auf den Weg zur Arbeit beschränken, damit es nicht masslos missbraucht wird. Pendler, die von überfüllten Bahnen genervt sind, steigen sonst aufs Auto um und das nützt niemandem!

    • @VanessaH:

      Ich mach mir weniger Sorgen, um das Pendeln als um die Städter, die einfachen Zugang zu Öffis haben, aber trotzdem überall mit dem Auto hinfahren. Aber ja, da hast du ebenfalls recht. Sonst muss die Infrastruktur ganz umgebaut werden, damit das passt. Das würde allerdings sehr lange dauern. Und obwohl von den entsprechenden Stellen in der Theorie Bedarf gesehen wird (oder das zumindest behauptet wird), ist in den letzten Jahrzehnten schon Nichts passiert.