Russischer Journalist im Exil: Nicht bereit fürs Gefängnis
Denis Kamaljagin floh nach dem 24. Februar ins Baltikum. Die Debatte über Visavergabe an Russ*innen bringt neue Unsicherheiten in sein Exilleben.
Gerade einmal fünf Monate ist es her, dass der Journalist überstürzt aus Russland über Estland nach Lettland geflohen ist – mit einem Rucksack, darin nur ein T-Shirt, ein Laptop und mehrere Notizblöcke. „Meine Heimat zu verlassen, diese Entscheidung habe ich gegen meinen Willen getroffen“, sagt Kamaljagin. „Aber ich war nicht bereit, für sieben Jahre oder länger ins Gefängnis zu gehen.“
Kamaljagin wird in Makijiwka geboren. Die drittgrößte Stadt im ostukrainischen Gebiet Donezk ist heute von russischen Truppen besetzt. Noch lange, nachdem er mit seinen Eltern weggezogen ist, verbringt er dort jeden Sommer bei seiner Großmutter mütterlicherseits, die Ukrainerin ist – genauso wie die Eltern seines Vaters.
2016, und damit zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges in der Ostukraine, fährt Kamaljagin als Reporter in die Stadt Donezk. „Das Zentrum und der vom Flughafen entfernte Teil sehen wie eine völlig friedliche Stadt aus. Ja, ein bisschen herrenlos, stellenweise düster und heruntergekommen, aber immerhin“, schreibt er kurz darauf in einem Beitrag für die ukrainische Webseite ostrow.org. „Die Stadt scheint sich erkältet zu haben, sie ist erkrankt oder in einen Winterschlaf gefallen.“ Sein Aufenthalt endet früher als geplant – die Behörden der sogenannten Volksrepublik Donezk lassen ihn abschieben. Mit seiner Akkreditierung sei etwas nicht in Ordnung, heißt es zur Begründung.
Mit der Staatsmacht angelegt
1986 wird Kamaljagins Vater, ein Militär, nach Russland beordert. Seine Frau und der einjährige Sohn Denis gehen mit. Von da an beginnt eine Odyssee: Sachalin, Kostroma und 1992 Jaroslawl. Die Versetzung nach Jaroslawl ist eine Strafmaßnahme, eine Art Verbannung, wie Kamaljagin sagt. Den Unmut des Vaters über die Zustände in der russischen Armee hat dessen Mutter in einem Leser*innenbrief zusammengefasst, den sie an die Zeitung Krasnaja Swesda (Roter Stern) schickt – das Zentralorgan des russischen Verteidigungsministeriums. In Jaroslawl hausen die drei mehrere Monate lang in einer fensterlosen Baracke, ohne Möbel und Strom.
1999 verschlägt es die Familie schließlich nach Pskow, eine Großstadt nahe der Grenze zu Estland. Nach seinem Schulabschluss nimmt Kamaljagin ein Ökonomiestudium auf, der Fakultät ist auch ein Lehrstuhl für eine militärische Ausbildung angeschlossen. Die muss auch Kamaljagin ein Jahr lang über sich ergehen lassen, bis er nach der Diagnose einer chronischen Magenerkrankung freigestellt wird.
2007 macht Kamaljagin sein Diplom. Da hat er bereits drei Jahre lang bei der örtlichen, staatlichen Stadtzeitung Erfahrungen gesammelt und vor allem über Sport und Kultur geschrieben. Doch dann sattelt er auf Politik und Wirtschaft um. „Am Anfang konnte ich schreiben, was ich wollte. Es gab keine Einschränkungen“, sagt Kamaljagin. Ab 2008 beginnt sich das zu ändern, die Luft für Oppositionelle und ergo auch für kritische Journalist*innen wird immer dünner. In diesem Jahr wird Dmitri Medwedew zum Präsidenten „gewählt“. Das vierjährige Intermezzo soll seinem Amtsvorgänger Wladimir Putin – fortan Regierungschef – die Möglichkeit verschaffen, bei der Präsidentenwahl 2012 erneut anzutreten – was er auch tut.
Zu diesem Zeitpunkt hat Kamaljagin schon ein einjähriges Gastspiel bei der Regionalzeitung Pskowskaja Gubernija (Provinz Pskow) hinter sich. Das Wochenblatt, das 2015 mit dem Gerd Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropas der Zeit-Stiftung ausgezeichnet wird, bürstet gerne gegen den Strich und legt sich dabei auch immer wieder mit der Staatsmacht an.
Zum „ausländischen Agenten“ erklärt
Im August 2014, Russland hat die Krim annektiert und die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine sind in vollem Gange, kehrt Kamaljagin zur Pskowskaja Gubernija zurück. Dort übernimmt er den Posten des Chefredakteurs und wird sofort unsanft geerdet. Denn die Zeitung steckt in großen Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist ein Artikel über geheime Beerdigungen russischer Soldaten im Gebiet Pskow, die in der Ostukraine gekämpft haben und dabei zu Tode gekommen sind. Das widerspricht dem offiziellen Narrativ des Kreml. Demnach habe es dort nie russische Soldaten gegeben und es gebe sie bis heute nicht. Der inkriminierte Beitrag bringt Kamaljagins Vorgängerin Swetlana Prokopjewa wegen „Rechtfertigung von Terrorismus“ die Verurteilung zu einer Geldstrafe von umgerechnet 13.000 Euro und der Redaktion die ungeteilte Aufmerksamkeit der Behörden ein.
Zu dem wachsenden politischen Druck kommen massive wirtschaftliche Probleme. Die Zeitung hält sich mit Stipendien und Spenden über Wasser. „2018 hatte ich zwei Monate lang zu Hause keinen Strom, aber das war ja für mich nichts Unbekanntes“, sagt Kamaljagin und grinst. Er und sein Team lassen dennoch nicht locker. 2019 bringt die Redaktion unter dem Titel „Russland und die Ukraine. Tage der Sonnenfinsternis“ ein Buch mit Reportagen über den Krieg im Osten der Ukraine heraus.
Im Dezember 2020 wird Kamaljagin selbst zum Gegenstand einer umfangreichen Berichterstattung – nicht nur in Russland. Er wird als eine von fünf Personen als „ausländischer Agent“ gelabelt – ein „Privileg“, das bis dahin nur Organisationen vorbehalten und schon Eintrittskarte ins Gefängnis ist. Dabei geht es angeblich um eine Kolumne für Radio Freies Europa, Thema: Die Entscheidung für den Bau einer Chemiefabrik an der Grenze zu Estland, an der die Anwohner*innen, anders als im Gesetz vorgesehen, nicht beteiligt worden sind. „Dafür habe ich 50 Euro Honorar bekommen“, sagt Kamaljagin trocken.
Russischer Angriffskrieg auf die Ukraine
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Im März 2021 wird Pskowskaja Gubernija die Lizenz entzogen. Wenige Monate später verweigert die russische Aufsichtsbehörde Rozkomnadzor dem Medium die Registrierung. Die Begründung ist so banal wie folgerichtig: Kamaljagin sei „ausländischer Agent“.
Dann kommt der 24. Februar, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. „Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Dieser Krieg ist das Schlimmste, was unserer Generation passieren kann“, sagt Kamaljagin.
Am 4. März unterschreibt Wladimir Putin ein Gesetz über Kriegszensur. Fortan dürfen Journalist*innen keine Daten über getötete russische Soldaten, sondern nur noch offizielle Informationen des Moskauer Verteidigungsministeriums verwenden. Einen Tag später stattet die Polizei der Redaktion einen Besuch ab. Sie konfisziert die gesamte Technik oder macht sie gleich an Ort und Stelle unbrauchbar. Kamaljagin und seine vier Kolleg*innen werden stundenlang verhört. Die Webseite von Pskowskaja Gubernija wird blockiert, und das gleich zwei Mal. Die Vorwürfe lauten auf Verbreitung von Falschnachrichten, die zu Unruhen in der Gesellschaft führen können, und Fake-News über die Armee. Darauf stehen fünf bis zehn Jahre Haft.
Debatte um Visavergabe
In Kamaljagin reift der Gedanke, die Arbeit einzustellen, da die Sicherheit seiner Mitarbeiter*innen nicht mehr gewährleistet werden kann. Seine Entscheidung zur Flucht fällt Mitte März, als ein weiteres Verfahren gegen ihn eingeleitet wird. Verleumdung des Gouverneurs des Gebietes Pskow, Michail Wedernikow, lautet der Vorwurf.
Am 16. März verlässt Kamaljagin Russland und trifft kurz darauf in Lettland ein. Mittlerweile hat er auch seinen vier Mitarbeiter*innen zur Ausreise dorthin verholfen. Kamaljagin hat ein Visum der Kategorie D, das aus humanitären Gründen erteilt wird und für ein Jahr gültig ist. Derzeit erhält er von der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen eine monatliche Unterstützung von 1.600 Euro. Die läuft Ende September aus – was danach kommt, ist unklar. Zu einem anderen russischsprachigen Exilmedium zu wechseln, ist für Kamaljagin jedoch keine Option. „Ich will Pskowskaja Gubernija retten. Das ist das Projekt meines Lebens und jetzt mein einziges Kind“, sagt er. Sein anderes Kind ist die achtjährige Tochter Dina, die in Russland lebt. Seit seiner Scheidung 2015 ist der Kontakt zu ihr abgebrochen.
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Trotz aller Unwägbarkeiten fühle er sich wohl in Riga: „Ich richte mich auf einen längeren Aufenthalt ein“, sagt Kamaljagin. Auch deshalb besucht er zweimal wöchentlich einen Lettisch-Sprachkurs. Sorgen bereiten ihm jedoch die jüngsten Beschränkungen der Visavergabe an Russ*innen, die die lettische Regierung beschlossen hat. Ob sich das auch auf seinen Aufenthaltstitel auswirken werde, wisse er nicht. Aber schließlich müsse man mit allem rechnen. „Für diesen Fall habe ich bereits einen Plan B“, sagt Kamaljagin. „Ein anderes europäisches Land.“
Der Text entstand im Rahmen einer Reise der taz Panter Stiftung.
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