Fischsterben in der Oder: Auch Flüsse brauchen Liebe

In der Oder sterben Fische, im Rhein fehlt Wasser: Höchste Zeit unser Verhältnis zu Flüssen zu überdenken, sonst werden sie sich weiter rächen.

Blick auf Fluss San und umgebenen Wald bei Sonnenaufgang

Naturbelassene Idylle: Fluss San im Bieszczady-Gebirge Foto: Robert Canis/FLPA/imago

Anfang Juli war ich einige Tage in den Bieszczady, ein Gebirgszug im Südosten Polens. Der San, den hierzulande nur wenige kennen, bildet dort auf 50 Kilometern die Grenze zur Ukraine. Ein freier, wilder Fluss, der nach 433 Kilometern unterhalb der alten Königsstadt Sandomierz in die Weichsel mündet. Ich war vom San beeindruckt. Auf Facebook habe ich einige Fotos gepostet, sie zeigen den Fluss in einer naturnahen Landschaft, an manchen Stellen muss man ihn mit der Fähre überqueren, weil Brücken fehlen. Der San ist ein Bild von einem Fluss – eines Flusses zumindest, wie ich ihn liebe.

Kurz darauf fand ich auf Facebook einen Post. Da hieß es, Polen werde von vielen deutschen Politikern vorgeworfen, ein Ökosünder zu sein, insbesondere wenn es um den Ausbau und die Sanierung der Oder gehe. Eine Art Doppelmoral sei das, beklagte sich der Autor und schrieb: „Ich glaube, kein anderes Land in Europa hat so viele ausgebaute Flüsse wie Deutschland.“ Vielleicht sollten die Deutschen etwas mehr vor der eigenen Haustür kehren, schlug er vor. Damit etwa der Rhein in Zukunft wie die Weichsel, der San oder andere polnische Flüsse aussehe.

Seit Juli ist mal mehr, meistens aber weniger Wasser den San hinunter geflossen, und in der Oder starben 100 Tonnen Fische. Warum, weiß immer noch keiner so ganz genau. Derweil fiel der Rhein bei Emmerich unter den Pegel Null. Die indirekte Frage, die mein Facebook-Freund aufgeworfen hat, scheint aktueller denn je: Welches Verhältnis haben wir zu unseren Flüssen?

Ein gar nicht so schlechtes, könnte man meinen, schließlich wenden sich viele Städte wieder ihren Flüssen zu. Vorbei die Zeit, in der diese nur als Kloake, zur Stromgewinnung oder zur Kühlung von Atomkraftwerken dienten. Stattdessen werden die Flussufer wiederentdeckt. Wird da nicht gerade an einem neuen Kapitel an der aus biblischer Zeit stammenden Erzählung von Mensch und Fluss geschrieben?

Flussblick schafft Betongold

Schön wäre es. Doch nicht selten verbirgt sich hinter der Wiederentdeckung nur ein neuer Trend. Gerade in den Städten sind Flüsse zu Standortfaktoren geworden. In Hamburg ist die Hafencity nicht ohne die Elbe zu denken, in Breslau sind am Oderufer neue, schicke Wohngebiete entstanden. Flussblick schafft Betongold. Flüsse schaffen Mehrwert nicht nur für Erholungssuchende, sondern auch für Immobilienhaie.

Auch ich muss mir da an die Nase fassen. Wenn ich in eine Stadt reise, schaue ich als erstes, ob es vielleicht ein Hotel mit Flussblick gibt. Und natürlich suche ich am Abend gerne eine Stelle am Fluss auf, wo ich mich setzen und dem Wasser hinterherschauen kann. Ohne es zu wollen, bin ich damit Teil einer Stadtentwicklungspolitik, in der auch an jenen Uferabschnitten, die die Stadt den Investoren abringt, nichts sich selbst überlassen wird.

Aufwändig gestaltete Parkanlagen wie im Berliner Regierungsviertel oder inszenierte Landmarks wie die Hubbrücke über die Elbe in Magdeburg, sind ein Hinweis darauf, dass Flüsse eine Funktion haben: Sie sollen uns dienen oder im besten Fall das Leben leichter machen. Der Domfelsen in der Elbe, ein Hungerstein, also eine Wasserstandmarkierung unterhalb der Hubbrücke, ist dagegen ein Hindernis. Immer wieder wird davon gesprochen, ihn wegzusprengen.

Denn im Zweifel hat die Binnenschifffahrt Vorfahrt. Um die Flüsse zu Wasserstraßen zu machen, wurden in Deutschland der Rhein, der Neckar oder der Main staureguliert. Aus den meisten deutschen Flüssen, da hat mein Facebook-Freund recht, wurden Kanäle. In Polen dagegen gibt es neben dem San noch viele wilde Flüsse.

Der Fluss muss dem Menschen dienen

Wie wenig wir über uns und die Flüsse nachdenken, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit. Wie nennen wir dieses Verhältnis, wenn der Fluss uns dienen soll? Ist es instrumentell? Eines zwischen Herr und Knecht? Oder gar ein patriarchales Gewaltverhältnis, dann etwa, wenn der Fluss mit aller Macht in ein anderes Bett gezwängt werden soll?

Der widerspenstigen Flüsse Zähmung ist ­jedenfalls Legende. Schon im 12. Jahrhundert haben die nach Osten ziehenden Germanen die Elbe eingedeicht und die Elbslawen, die bis ­dahin im ­Einklang mit dem Fluss lebten, vertrieben. Wo der Fluss sich nicht recht zähmen ließ, sprach man wie in Lenzen ganz unverblümt von einem ­„Bösen Ort“.

Und dann ist da noch die Trockenlegung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert. Um die von slawischen Fischern besiedelte Flussniederung fruchtbar zu machen, ließ Preußens König Friedrich II. den Lauf der Oder um mehr als 20 Kilometer verkürzen. Auf dem fruchtbaren Ackerland, das er gewann, siedelte er Kolonisten aus ganz Europa an. Noch immer gilt diese Urbarmachung als Großtat der Moderne. Nur wenige, wie der britische Historiker David Blackbourn, sehen darin auch einen Sündenfall – als Beispiel der Eroberung der Natur durch den Menschen.

Womöglich ist der nationale Hinweis, den mein Facebook-Freund in seinem Post untergebracht hat, gar nicht so verkehrt. Die Indienststellung der Flüsse unter die Bedürfnisse der Menschen erfolgte in Europa tatsächlich in West-Ost-Richtung.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Doch die Trockenlegung des Oderbruchs war nicht nur eine Eroberung der Natur, wie es Blackbourn nennt, sondern auch eine Form der Kolonisation. Im eigentlichen Sinne des Wortes zunächst, weil die neuen Siedler in Kolonistendörfern unterkamen.

Eine Kolonisierung war die Trockenlegung aber auch im Verhältnis zwischen Mensch und Fluss selbst. Friedrich soll einmal davon gesprochen haben, mit dem Oderbruch eine Landschaft nicht wie sonst im Krieg, sondern im Frieden erobert zu haben. Diese Eroberungsmetapher lässt sich auch auf andere Beispiele übertragen: den Bau von Staudämmen, die Zerstörung von Brücken in Kriegen, die von meinem Facebook-Freund angesprochene Kanalisierung der Flüsse in Deutschland.

Nur noch ein Drittel aller Flüsse weltweit, so lautete die Warnung von Forscherinnen und Forschern 2019 in der Zeitschrift Nature, fließen ungehindert von der Quelle bis zur Mündung. Die anderen wurden aufgestaut oder zurechtgebogen. 2,8 Millionen Staudämme und Staustufen gibt es inzwischen weltweit.

Höchste Zeit also für eine Dekolonisierung. Oder, weniger politisch formuliert: Hören wir auf, die Flüsse weiter zum Objekt zu machen, sie zu bändigen und zu zähmen. Behandeln wir sie nicht wie Untertanen, sondern wie Freunde und geliebte Menschen. Denn auch Flüsse brauchen Liebe. Unsere Liebe.

Vielleicht gehört dazu auch, dass wir uns wieder etwas zurückziehen, die Flüsse nicht immer neu entdecken müssen, sondern sie auch in Ruhe lassen. Noch radikaler wäre es, da hat mein Facebook-Freund natürlich recht, sie rückzubauen, aus den Kanälen wieder frei fließende Ströme zu machen, ganz egal, was die Binnenschifffahrtslobby sagt.

Denn wie sehr wir uns vom Fluss abhängig gemacht haben, zeigt sich in diesen Tagen mit aller Wucht: Niedrigpegel lassen – nicht nur am Rhein – die Binnenschifffahrt zusammenbrechen. Kohle muss auf Züge verladen werden, in Frankreich stehen die Atomkraftwerke still, weil die Flüsse wegen des niedrigen Wasserstands nicht mehr kühlen können. Höchste Zeit also, umzudenken. Nicht nur in Sachen Energie und Sicherheit braucht Deutschland eine Zeitenwende, sondern auch im Umgang mit seinen Flüssen.

Denn wenn wir das nicht tun, werden sie sich rächen. Mit Umweltkatastrophen und Überschwemmungen, wie beim so genannten Jahrhunderthochwasser an der Oder vor 25 Jahren. Dabei zeigen schon die Hochwasser an der Elbe 2002, 2006 und 2013, dass diese „Jahrhunderthochwasser“ in immer kürzeren Abständen auftreten. Auch der Bau neuer Deiche hat das nicht verhindert, werde ich dem Freund sagen, wenn wir uns demnächst auf einen Kaffee treffen.

Und auch, dass es natürlich keine gute Idee ist, wenn die Regierung in Warschau nun ausgerechet die noch immer größtenteils frei fließende Oder zu einem weiteren Kanal machen möchte. Wenn Flüsse nur noch Kanäle sind, ist die Hemmschwelle für skrupellose Unternehmer vielleicht niedriger, Gifte einzuleiten.

Zum San werde ich wieder zurückkehren. Welche Rolle die Flüsse in Polen für die Menschen spielen, habe ich gerade in einem Buch über den Tourismus der Dreißigerjahre gelesen. Fast jeder Ort im Osten Polens, der damals bis in die heutige Ukraine reichte, warb in Zeitungsannoncen mit dem dazugehörenden Fluss und den Stränden, die an ihm liegen.

Vor allem aber ging aus den Interviews hervor, welches Verhältnis die Menschen zu diesen Flüssen hatten: eines mit Liebe und Respekt.

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Jahrgang 1963, ist Redakteur für Stadtentwicklung der taz. Weitere Schwerpunkte sind Osteuropa und Brandenburg. Zuletzt erschien bei Bebra sein Buch "Morgenland Brandenburg. Zukunft zwischen Spree und Oder". Er koordiniert auch das Onlinedossier "Geschichte im Fluss" der Bundeszentrale für politische Bildung. Uwe Rada lebt in Berlin-Pankow und in Grunow im Schlaubetal.

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