Die Wahrheit: Jetzt kommt der Kohlausstieg
Wahrheit investigativ: Russland kappt und kappt das Gas. Deutsche Kohlkraftwerke sollen es nun richten.
„Jetzt schau’n Sie sich doch mal den Salat an.“ Gerda Müller ist verzweifelt. Die 76-Jährige steht in ihrer Wohnstube. Umzingelt ist sie von Dutzenden und Aberdutzenden Weißkohlköpfen, die sich bis an die Decke stapeln. „Dieser junge Mann da ist außer Rand und Band wegen seiner neuen Kraftwerke“, schnaubt die gestandene Landwirtin.
Mit einem lauten Rumms kullert an diesem Vormittag der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck aus einer Ecke Kohl. Hinter ihm her kriechen vier Leibwächter. Eilfertig buckeln sie wenig später kohlgefüllte Säcke auf ihre muskulösen Schultern.
Draußen wird unterdessen auf dem Müller’schen Acker eilig ein Pult für eine Pressekonferenz gezimmert. In wenigen Minuten wird Habeck hier im norddeutschen Dithmarschen zum Thema „Mit Kohl durch den Winter“ sprechen. Und mittendrin Gerda Müller. Das Leben der Schleswig-Holsteinerin hat sich binnen Wochen schlagartig verändert.
Züchtete sie bis vor Kurzem noch Kohl als ungeliebtes Gemüse, verantwortet sie nun zu einem Gutteil mit, dass Deutschland im kommenden Winter nicht frieren muss. Kürzlich, im Juni war es, das weiß die Dithmarschnerin noch genau, als Habeck verkündete, Deutschland müsse ob gedrosselter russischer Gaslieferungen Energie sparen. Die Nachrichtenagentur AFP tickerte daraufhin: „Bei einer Gasknappheit im Winter wäre der erste naheliegende Schritt, Heizkraftwerke mit Kohl statt mit Gas zu befeuern.“
Auf Kohl sind alle heiß
Nun hat Gerda Müller seither den Salat. Denn das widerspenstige Gemüse Kohl wächst vorrangig eben in Schleswig-Holstein. Genauer gesagt: Rund um Müllers Hof in Dithmarschen, dem größten zusammenhängenden Anbaugebiet für Weißkohl in Europa. Und auf den sind nun alle heiß, besonders der Wirtschaftsminister höchstpersönlich.
An diesem trüben Tag trudeln immer mehr Reporter auf Müllers Weißkohlfeld ein, auch Vertreter von Wissenschaft und Handwerk sind vor Ort. Stürmische Böen und leichter Nieselregen sorgen für einen angenehmen norddeutschen Sommertag. Verträumt hält Robert Habeck zwei Kohlköpfe in seinen Händen, der Minister muss abwägen: „Als Grüner ist es besonders bitter, Kohl für die Energiegewinnung zu nutzen, denn das Gemüse ist sehr gesund für uns alle. Aber aktuell muss Pragmatismus jede politische Festlegung schlagen.“
Denn Habeck darf nun die von Merkel und Konsorten komplett verschlafene Energiewende ausbaden. Auf einem kohlförmigen Chart präsentiert er den eng getakteten Kohl-Zeitplan. Noch 2022 sollen drei neue Kohlkraftwerke in Schleswig-Holstein entstehen. Rote Fähnchen stecken in den Orten Diekhusen-Fahrstedt, Brunsbüttel und Bokhorst.
Dort haben sich laut Habeck, bereits neue Protestbewegungen mit wohlklingenden Namen wie „Kein Bock auf Kohldampf“ und „Verkohlen können wir uns selbst“ gegründet.
„Alter“, ist hier die Antwort des stark öffentlichkeitsaffinen Habeck, der sich geschmeidig an sein kohlförmiges Pressekonferenzpult lehnt, „wir garantieren den betroffenen Menschen auf alle Kohl, nein, auf alle Fälle, dass es bei ihnen nicht so aussehen wird wie in den vermeintlich blühenden Kohllandschaften im Osten Deutschlands.“
Doch allein der Weißkohl, das weiß nicht nur Habeck, kann den bundesdeutschen Energiebedarf für den kommenden, möglicherweise oder sehr wahrscheinlich harten Winter nicht decken.
In einer „konzentriert konzertierten Aktion“, so Martin Zinsfuß vom deutschen Kohl- und Handwerksverband, der nach Habeck zu den versammelten Journalisten auf dem Kohlacker spricht, hätten sich deshalb der Deutsche Kohlverband, das Handwerk und die Wissenschaft „an einem strunkförmigen Tisch ausgetauscht“.
Die ersten Ergebnisse würden „den Kohl schon ordentlich fett machen“. In einem „Freiwilligen Ökologischen Kohljahr“ könnten sich junge Menschen „einbringen“, führt Zinsfuß aus. „In speziellen Kompostmeilern ertüchtigen sich die jungen Leute körperlich durch Kohlschippen. Und sie erzeugen Energie durch Verrottungswärme.“ Auch solle die Ausbildung des Kohlers wiederbelebt werden.
Von Habeck signierte Kohlköpfe
Die Pressekonferenz am kohlförmigen Pult und auf dem Kohlacker von Gerda Müller neigt sich dem Ende entgegen. Robert Habeck verschenkt, vorwitzig wie stets, und ohne die Bäuerin zu fragen, einfach und schnell ein paar signierte Kohlköpfe.
Weiter geht es für den Pressetross noch am selben Tag an die Universität für Energie zu Oldenburg in Oldenburg, kurz O. i. O. Dort begrüßt Professor Dr. Dr. Rolf Daumen. Der 53-Jährige ist Leiter des Sonderforschungsprojekts „Kohl ist unsere Heimat“.
Mit Hochdruck arbeite, so Daumen, die Wissenschaft daran, „die Brenndauer und den Heizwert der Kohlsorten zu verbessern“. Stolz schreitet der Kohlologe durch das mit Teppichboden ausgelegte Labor. Dann zeigt er auf die in Vitrinen ausgestellten Grünkohlexponate.
„Grünkohl hat eine Brennleistung von mehr als 10,6 Kilowattstunden pro Kilogramm, ist pure norddeutsche Energie und brennt bis zu sechsmal länger als Holz“, rechnet der zweifach promovierte Professor zur Gänze überzeugt vor. Für den „Behaglichkeitskoeffizienten“, also Raumtemperatur mal Quadratmeterzahl geteilt durch die Körpergröße der anwesenden Menschen, sei das „eine sehr gute Nachricht“.
Daumen führt uns in die brandneue Fertigungsanlage für Kohlbriketts. Darin wird das Kraut in einem Knetwerk fein gemahlen und mit Grünkohlteerpech vermengt. Heraus plumpst ein dunkelgrünes Brikett. „Das ist die Zukunft“, sagt der zweifach promovierte Plantologe stolz. „Auch hier können sich idealistische junge Menschen, etwa all die von Fridays for Future, ordentlich austoben.“
Die Pressetour rund um den Kohl ist beendet, da klingelt das Handy des Wahrheit-Reporters. Eine aufgeregte Gerda Müller ist am anderen Ende. „Der Habeck“, ruft die Kohlbäuerin durch, „der hat so viele Kohlköpfe signiert, ich musste ihm den Filzstift wegnehmen.“ Traurig sei der Minister daraufhin zurück nach Berlin gefahren.
Trotz wirklich immenser Fortschritte bei den Kohlbriketts und überhaupt, bleibt die Dithmarscherin auch am Telefon weiter recht skeptisch. Am Ende, so fürchtet sie, „stehe ich ohne Kohl da und muss dann trotzdem frieren“. Deshalb sattelt sie jetzt um. Gerda Müller hebt derzeit einen kleinen Tagebau für den Eigenbedarf aus. Hinter ihrem Hof.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl