Doku „Tics – Mit Tourette nach Lappland“: Frieden in Inari
Endlich ein Film, der das Tourette-Syndrom ernst nimmt, anstatt sich lustig zu machen: die Doku „Tics – Mit Tourette nach Lappland“ von Thomas Oswald.
Und weil sie sich dabei so anarchisch gebären, ist das Tourette-Syndrom zur Lieblingskrankheit des Unterhaltungskinos geworden. Davor war es der Autismus („Rain Man“, „Mozart und der Wal“), nun gibt es seit einigen Jahren eine Reihe von Spielfilmen („Vincent will Meer“; „Ein Tic Anders“, „Motherless Brooklyn“), in denen Protagonist*innen unkontrolliert Obszönitäten und Beleidigungen ausstoßen, und dabei natürlich immer komisch sind und den dramaturgischen Nagel auf den Kopf treffen.
Mit den Realitäten dieser neuro-psychiatrischen Erkrankung hat das wenig zu tun, aber von ständigen Zuckungen und unartikulierten Ausrufen lässt sich nicht so schön erzählen.
Der Hamburger Filmemacher Thomas Oswald hat mit „Tics – Mit Tourette nach Lappland“ nun endlich einen Film gedreht, in dem die Krankheit ernst genommen wird und drei junge Menschen vorgestellt werden, die an ihr leiden.
Sich selbst und andere „Tourris“ nennen
Einer von ihnen, Daniel, stößt zwar tatsächlich ein paar Mal das Wort „Nutte“ aus, aber meistens sind seine Äußerungen nonverbal: kleine Schreie, Keuchen, Stöhnen, Ausrufe. Leo wiederum zuckt so heftig mit dem Körper und dem Kopf, dass man spüren kann, wie ermüdend diese ständigen krampfartigen Bewegungen für ihn sein müssen.
„Tics – mit Tourette nach Lappland, Regie: Thomas Oswald, Deutschland 2021, 94 Minuten;
Und Marika, der man äußerlich kaum etwas anmerkt, weil sie gelernt hat, ihre Tics zu beherrschen, wird innerlich von der Krankheit beherrscht, weil sie unter dem ständigen Leidensdruck starke Aggressionen gegen sich selbst und andere „Tourris“ entwickelt hat.
Die drei begeben sich auf die im Titel versprochene Reise nach Lappland, weil der Lübecker Neurologe Alexander Münchau eine neue Verhaltenstherapie entwickelt hat. Gemeinsam mit dem Psychiater Daniel Alvarez-Fischer fährt er mit den Protagonist*innen ins tiefste Finnland, weil sie sich dort viel ruhiger und entspannter ihrer Erkrankung stellen können: Außenreize sind in einer Waldhütte bei Inari extrem reduziert.
Vorher besuchen die Reisegruppe und das Filmteam noch einige Fachleute, die eigene Therapieansätze für das Tourette-Syndrom entwickelt haben. In Paris werden zum Beispiel Löcher in die Schädeldecke gebohrt, durch die dann Elektroden eingeführt werden, die das Gehirn „stimulieren“. Dagegen hat die Cannabis-Therapie, die eine Neurologin in Hannover vorstellt, einen deutlich sanfteren Ansatz.
Chaotisch wirkende Freejazz-Improvisationen
Wenn Daniel, Leo und Marika in diesen ersten Minuten des Films in den Städten gezeigt werden, spielen dazu der Saxofonist Dan Freeman und der Schlagzeuger Christian Straube chaotisch wirkende Freejazz-Improvisationen, die zum Teil so präzise zu den Tics der drei synchronisiert sind, dass etwa Leo einmal genau passend zu einem Trommelschlag zuckt. Während der Fährfahrt nach Finnland sind dann aber noch beruhigende fließende Klänge zu hören. Subtil ist das Sound-Design von Simone Weber nicht, aber wirkungsvoll.
Und auch der Film selbst kommt in Lappland zur Ruhe. Thomas Oswald nimmt sich hier Zeit für lange Sequenzen, in denen die Protagonist*innen von sich und ihren Krankheitsgeschichten erzählen, vor allem aber darüber, wie andere auf ihre Tics reagieren. Und wenn sie dann schildern, wie sie angestarrt, beschimpft oder lächerlich gemacht werden, wird eindrucksvoll deutlich, wie existenziell ihr Leben durch Tourette geprägt wird.
Schließlich treffen sie in der Wildnis von Lappland einen Schamanen, der in seiner verrauchten Holzhütte eine rituelle Heilungssitzung mit ihnen abhält, bei der sie neue samische Namen bekommen. Eine deutliche Besserung ist dadurch nicht festzustellen, aber dasselbe gilt auch für Münchaus Therapie.
Keiner der drei fährt kuriert nach Hause. Aber ein paar ruhige und entspannte Momente haben sie in Lappland erleben können. Und Thomas Oswald ist ein zugleich sachlicher und stimmungsvoll inszenierter Film gelungen, der endlich angemessen über eine Erkrankung informiert, die alles andere als komisch ist.
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