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Brasilianische Autorin Clarice LispectorWie ein Glühwürmchen

Die Texte der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector sind scharfkantig. Schockartig taucht in dem Band „Ich und Jimmy“ etwas Wildes auf.

Sie scherte sich den Teufel um einen klaren Plot: Clarice Lispector Foto: Paulo Gurgel Valente/picture alliance

Frau Jorge ist es satt, ein menschliches Wesen zu sein, aber an ihrem Spiegelbild hat sie auch keine Freude, weil sie aussieht wie ein anonymes Huhn. Miss Algrave besteigt ihre Badewanne aus Frömmigkeit nur in Unterwäsche; doch als ein Abgeordneter des Saturn sie im Bett besucht und streichelt, fühlt sie sich, „als schleudere ein Krüppel seine Krücken in die Luft“.

Eine alte Frau hat Geburtstag; die Familie rückt mit Juchei an. Der fürsorgliche Enkel will dem Omalein verbieten, Wein zu trinken, und die Alte fragt sich, warum eine starke Frau wie sie derartig trübe Wesen geboren hat. Als sie den Kuchen anschneidet, hält sie das Messer wie eine Mörderin. Kinder und Kindeskinder treten mit den Tellern an und sie denkt: Bald bekommt jeder sein Schäufelchen Erde.

Clarice Lispector (1920–1977) schrieb eine hellsichtige, sarkastische und dann wieder zarte, traumtänzerische Prosa, die verführt und irritiert. Die Autorin wurde als jüdisches Kind „kleiner Leute“ in der heutigen Ukraine geboren. Gleich nach ihrer Geburt floh die Familie vor antisemitischen Pogromen und landete in Brasilien.

Schon zu Lebzeiten eine Legende

Die Einwanderung wurde für Clarice zu einer Erfolgsgeschichte: Sie studierte Jura, arbeitete als Journalistin und veröffentlichte ihre ersten literarischen Texte. Sie heiratete einen Diplomaten und führte phasenweise ein mondänes Leben zwischen Rio, Neapel, Bern und Washington. Sie bekam zwei Kinder, ließ sich scheiden; sie übersetzte, schrieb weiter Kolumnen und Stories. Schon zu Lebzeiten galt sie als Legende und wurde mit Virginia Woolf oder Katherine Mansfield verglichen.

Die Heldinnen ihrer Texte sind entweder fest verwurzelt in der traditionellen bürgerlichen brasilianischen Gesellschaft oder steigen durch Eheschließung in diese Schicht auf. Aber sie bleiben ungefestigte, instabile Gemüter – das traute Heim und die treusorgenden Gatten lassen Wünsche offen. Eine Frau sagt sich, „als Mann wäre ich Bankier geworden“; eine andere führt ein Doppelleben als Hausfrau und Stripteasetänzerin.

Lispector schreibt keine vorbildlichen Emanzipationsgeschichten, die aus dem goldenen Käfig in ein selbstbestimmtes Leben führen. Wenn es Ausbrüche gibt, enden sie oft gerade einmal in einem Schönheitssalon – oder der doppeldeutige Ausdruck „sich das Leben nehmen“ wird zu einer Option.

Der Band „Ich und Jimmy“ versammelt Texte aus allen Arbeitsphasen und zeigt eine sperrige Autorin, die nach heutigen Maßstäben politisch inkorrekt schreibt. Eine Autorin, die keine Identifikationsangebote macht und sich den Teufel um eine klare Komposition und einen nachvollziehbaren Plot schert. Wer hier nach Orientierung sucht, könnte sich auch auf Glühwürmchen verlassen.

Statue von Clarice Lispector am Strand von Leme, Rio de Janeiro Foto: AGB Photos/imago

Himmlisch und höllisch

Die Texte brechen häufig aus der Wirklichkeit aus, aber man kann sie nicht mit dem ohnehin strapazierten Begriff des lateinamerikanischen „magischen Realismus“ fassen. Und doch wissen sie etwas von weltimmanentem Zauber, von Grenzüberschreitung. Schockartig taucht hier etwas Wildes, Widersetzliches, auch Monströses auf, ob es nun himmlisch oder höllisch ist.

Lispector war keine orthodoxe Jüdin, und viele ihrer Figuren sind reichlich undogmatische Katholiken. Wenn sie nach Transzendenz suchen, werden sie ketzerisch: Eine Frau sieht sich als Muttergottes und liebkost den Allmächtigen wie ein Kind – leider erweist er sich als grober Klotz.

Die Helden dieser Geschichten sind fest verwurzelt – aber sie bleiben ungefestigte, instabile Gemüter

In dieser Prosa krachen säuberlich getrennte Gegensätze wie das Gute und das Böse, Liebe und Hass, Banales und Ekstatisches, Lust und Schmerz, Glaube und Wissen oft in einem einzigen Satz gegeneinander. Eine Frau ist neugierig und gelangweilt zugleich. Die nächste fragt sich, wie sie gleichzeitig Mehl essen und pfeifen kann.

Lispectors Texte sind handlungsarm, doch expressiv; sie haben die Faszination von Rohdiamanten und sind entsprechend scharfkantig. Die Boshaftigkeit und Grausamkeit einiger Figuren sollen offensichtlich konsternieren, und das Widersprüchliche kreischt einen hier manchmal geradezu an. Die Autorin wurde oft als moderne, gottlose Mystikerin bezeichnet und gefiel sich wohl auch in der Rolle der Sphinx. Ihre unbändige, poetische Prosa gibt Rätsel auf und hallt lange nach. Denn Lispector will die Dinge nicht einleuchtend machen, sie lässt sie vielmehr leuchten.

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