Flüchtlingshilfe in Fischerhude: Ein Dorf steht zusammen
Das Dorf Fischerhude in Niedersachsen baut eigene Strukturen auf, um Geflüchteten zu helfen. Lokalpolitische Dispute sind dafür auf Eis gelegt.
Schon wenige Tage nach Kriegsausbruch sammelten Thorsten Meyer und Tom Killus Sachspenden für die Ukraine. Die beiden sind Teil des Organisationsteams eines Festivals, das seit einigen Jahren im Sommer unweit des Dorfes veranstaltet und im Dorf kontrovers betrachtet wird. Jetzt nutzen sie ihre Erfahrung bei der Koordination von Freiwilligen und Spenden. Die abgegebenen Kleider und Hilfsgüter transportierten sie erst in die Krisenregion, nun werden die Spenden auch für die Geflüchteten in der Region bereitgestellt. Spritkosten und sonstige Ausgaben werden von dem Kölner Verein Arts & Culture Germany gedeckt. Vom Landkreis gibt es keine Unterstützung.
Die eigens gegründete Kleiderkammer Fischerhude verteilt die Spenden in den alten Räumlichkeiten der Dorfbäckerei Sammann. Der Geruch von Butterkuchen und Sonntagsbrötchen liegt auch nach Jahren des Leerstands noch in der Luft. Heute sortieren Ukrainer:innen und Dorfbewohner:innen Seite an Seite in der milden Frühlingssonne vor der Backstube Spenden nach Kleidergrößen, packen Schlafsäcke, Wintermäntel und Kinderschuhe in große Pappkartons – für die Menschen, die daheim in der Ukraine in U-Bahn-Schächten oder Bunkern ausharren müssen.
In der weiß gekachelten Backstube sind die Kleidungsstücke auf Konferenztischen und an improvisierten Kleiderstangen nach Größe sortiert. „Mittlerweile ist genug da, wir müssen schauen, dass wir alle Spenden sortiert bekommen“, freut sich Killus, der die Arbeit der Helfenden koordiniert. In jeder Schicht arbeiten sowohl Geflüchtete als auch Dorfbewohner:innen, das erleichtere die Kommunikation und fördere den Zusammenhalt.
Die Geflüchteten im Dorf, überwiegend Frauen und Kinder, sind meist privat nach Fischerhude gekommen. Wenige haben über Vermittlungsplattformen den Weg hierher gefunden, wie Kristina und Andrej. Das junge Paar ist gemeinsam mit Andrejs Mutter Natascha schon kurz nach Kriegsbeginn aus der Nähe von Odessa geflohen. Einige Wochen waren sie unterwegs, zwischenzeitlich in einer Erstunterkunft in Kiel, bis sie über die Plattform icanhelp.host ein privates Zimmer in Fischerhude fanden.
Sie möchten weiter nach Kanada, erzählt Andrej, der einzige von ihnen, der Englisch spricht. Dort wohnen alte Schulfreunde, die sie eingeladen haben. Um der eigenen Tochter Lebewohl zu sagen, ist auch Kristinas Mutter Tanja für zehn Tage angereist, anschließend geht es wieder zurück ins Kriegsgebiet nach Odessa. Dort kümmert sie sich um ihren 90 Jahre alten Vater, dem eine Flucht aus der Ukraine nicht mehr zuzumuten wäre. Natascha aber möchte erst mal in Deutschland bleiben, näher an der Heimat und näher an ihrem Mann, der gerade Odessa verteidigt.
Es ist nicht immer so einfach, die verfügbaren Plätze bei Familien oder in leer stehendem Wohnraum zu besetzen, erzählt Thorsten Meyer, der die Hilfe im Dorf mitinitiiert hat. Die Vorstellung vom dörflichen Leben sei bei vielen Ukrainer:innen eine andere als die Fischerhuder Realität. Intakte Infrastruktur, befestigte Straßen, eine gute Anbindung an Nah- und Fernverkehr, all das würden die Geflüchteten oft nicht erwarten, wenn Ihnen ein Wohnort auf dem Land angeboten werde.
Mit Fotos aus dem Ort, Übersetzungen und mittlerweile auch über Mundpropaganda habe man trotzdem schon 53 Geflüchtete in Fischerhude untergebracht, erzählt Meyer, deutlich mehr als die umliegenden Dörfer. Auch 2015 und 2016 sei in Fischerhude schon eine vergleichsweise große Hilfsbereitschaft mit Geflüchteten bemerkbar gewesen, erzählt eine andere Dorfbewohnerin, die damals selbst eine syrische Mutter mit Kind aufgenommen hatte. In der aktuellen Situation habe die private Hilfsbereitschaft aber neue Dimensionen erreicht.
Klassische Wohngemeinschaft
Thorsten Meyer erklärt sich die gegenwärtig große Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung auch mit größerer kultureller und geographischer Nähe zur Ukraine. Fahrten mit Hilfsgütern nach Lviv, die Koordination der Geflüchteten und der hilfsbereiten Dorfgemeinschaft übernimmt er zusätzlich zum Vollzeitjob im Homeoffice, irgendwie passe das schon in den Kalender. Viel Zeit für Privates bleibe ihm da aber gerade nicht. Bei der Familie Meyer leben neben Thorsten, Tina und dem gemeinsamen Sohn Thore aktuell noch Inna und ihre zwölfjährige Tochter Arina aus der Ostukraine. „Manchmal führt das auch zu Konflikten, es gelingt nicht immer, private Zonen abzugrenzen“, erzählt Thorsten Meyer, „aber so ist es in jeder Wohngemeinschaft“.
Für ihre beiden Gäste und fünf weitere Familien, die im Dorf untergekommen sind, regelt Thorsten die Kommunikation mit dem Landkreis, für Arina auch die Anmeldung an der Gesamtschule im Nachbarort. Die Anträge auf Asylbewerberleistung hat er für alle Familien gebündelt abgegeben. Mehrere Sachbearbeiter:innen, zuständig nach Anfangsbuchstabe des Nachnamens, zitierten die Familien dann aber an unterschiedlichen Tagen zu der 35 Kilometer entfernten Ausländerbehörde in Verden. „Das ist schon ein bisschen verrückt, ich nehme der Behörde ehrenamtlich Berge an Arbeit ab und die können sich nicht bezüglich eines Termins koordinieren“ meint Meyer. Da höre sein Verständnis für die Bürokratie auf.
Vor allem bei der Bürokratie und verschiedenen Anträgen und Formalien erschwere auch die Sprachbarriere den Zugang für die Geflüchteten, erzählt Meyer. Wenn die Gastgeber:innen den Prozess nicht gemeinsam mit den Ukrainer:innen begleiten würden, bräuchten die Behörden vermittelnde Übersetzer. In Fischerhude wurde die Kommunikation zwischen Dorfgemeinschaft und Geflüchteten einfacher, als die Ukrainerin Elena hierher kam. Sie hat in Deutschland studiert, spricht fließend beide Sprachen, hilft bei Fragen oder Missverständnissen und übersetzt wichtige Informationen aus der gemeinsamen Chatgruppe der Geflüchteten und Gastgebenden.
Eintopf aus der Heimat
Heute hat der größte Unternehmer des Dorfes zum Essen geladen. Ihm gehören viele Wohnungen und Häuser in Fischerhude, mit seiner Firma ist er außerdem der größte Arbeitgeber hier, befindet sich wegen seines Einflusses auf die lokale Politik aber oft auch im Konflikt mit den Dorfbewohner:innen. Lokalpolitische Dispute sind aber vorerst auf Eis gelegt, in der großen Krise zieht der Großteil des Dorfes an einem Strang. In den Räumlichkeiten des mittelständischen Unternehmens findet seit einigen Wochen von Montag bis Donnerstag ein Deutschkurs für Ukrainer:innen statt.
Heute gibt es hier Bigos, einen polnischen Eintopf mit Sauerkraut und Fleisch, der auch in der ukrainischen Küche beliebt ist. Als Koch Wilko sich flüchtig verabschiedet, gibt es spontanen Applaus. Das Dinner, ein kleines Stück Heimat für die Geflüchteten, ist so viel mehr als bloß Verpflegung.
Das Abendessen ist nur eine der Veranstaltungen im Dorf, die Geflüchteten das Ankommen erleichtern und für Vernetzung sorgen sollen. Ob beim gemeinsamen Singen im Chor oder bei Grünkohl und Livemusik – den Geflüchteten werden Angebote gemacht, im Dorf anzukommen. „Jeder gibt das, was er am besten kann“, erzählt Thorsten Meyer, so entstehe eine starke Gemeinschaft.
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