Zwangsarbeit in Berlin: Arbeitszwang
Dreitausend Zwangsarbeitslager gab es im Krieg in Berlin. In der Reihe „NS-Zwangsarbeit vor unserer Haustür“ will man darüber ins Gespräch kommen.
Das Haus, das die Spandauerin bewohnt, ist ein Familienerbstück. Zwangsarbeit aber kommt in der Erinnerung ihrer Familie nicht vor. Bisher nicht. „Ich habe mich an die Leitung des Dokumentationszentrums und an die Berliner Geschichtswerkstatt gewandt und wollte mehr erfahren“, berichtet die Frau. „Ich wollte Erinnerungen aus meiner Familie organisieren. Ich wäre die Letzte, die sich einem Gedenkort vor unserem Haus verwehrt hätte.“ Aber sie erhielt lange überhaupt keine Antwort, berichtet die Frau. Alles, was sie dann erfuhr: Das Foto stamme aus einem Fotofonds tschechischer Zwangsarbeiter. Ob die in dem Haus untergebracht waren oder dort Arbeiten verrichten mussten – unbekannt.
Genau solche Debatten und Nachfragen sind es, die das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit mit einer Tour durch die Bezirke initiieren will. Jeden Monat zieht sie in diesem Jahr in einen anderen Bezirk und diskutiert gemeinsam mit den Bezirksmuseen, mit Archäologen, Geschichtsprojekten von Schulen, Bezirkspolitikern und interessierten Bürgern über, so der Titel der Reihe, „NS-Zwangsarbeit vor unserer Haustür“.
Im April war Station in Spandau. In den Gotischen Saal der Zitadelle, wo die Diskussion stattfand, waren rund 80 Interessierte gekommen. Die Erforschung der NS-Geschichte brauche den Austausch zwischen WissenschaftlerInnen, dem Bezirk und den vielen Privatinitiativen, sagt Uwe Hofschläger, der Leiter der Jugendgeschichtswerkstatt Spandau. Das private Engagement in Spandau an der Erforschung dieses Teils der Bezirksgeschichte sei riesig. „Aber ohne finanzielle und politische Unterstützung aus dem Bezirk können wir keine Erinnerungsorte schaffen, keine Stolpersteine verlegen.“
Tour: Vor 80 Jahren, im Jahr 1942, wurde Zwangsarbeit in Berlin zum Massenphänomen, das in der Reihe „NS-Zwangsarbeit vor unserer Haustür“ in den Blick genommen wird. Dazu gibt es bis Ende des Jahres jeden Monat eine Veranstaltung in einem Bezirk.
Termin: Die nächste Veranstaltung ist am 19. Mai im Mitte Museum. Dabei beschäftigt sich der Historiker Thomas Irmer in einem Vortrag anhand von Fallbeispielen mit der Zwangsarbeit von deutschen Juden während des Krieges.
Zwangsarbeit war in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in Berlin nicht zu übersehen. Knapp 500.000 ZwangsarbeiterInnen aus 20 Ländern lebten in der Reichshauptstadt. Aus Polen, der Ukraine, Frankreich und den anderen von der Wehrmacht eroberten Gebieten verschleppte Menschen sollten die Arbeitskräfte der deutschen Männer ersetzen, die an der Front waren. Vor allem in der Rüstungsindustrie wurden sie eingesetzt, aber nicht nur.
3.000 Zwangsarbeitslager gab es in den Kriegsjahren in Berlin, über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Anders als man meinen könnte, waren sie nicht umzäunt. Die zwangsweise nach Berlin verschleppten Menschen mussten sie selbstständig zur Arbeit verlassen. Durch Aufnäher an ihren Kragen waren sie als Zwangsarbeiter erkennbar. Wer floh, dem drohte die Einweisung in KZ-ähnliche Arbeitserziehungslager.
Spandau war als Industriestandort ein Zentrum der Zwangsarbeit. Über 100 Orte im Bezirk sind heute als Zwangsarbeitslager identifiziert worden, durch Archivstudien, Erinnerungen von Nachbarn oder durch archäologische Forschungen. Darunter eine Fleischerei, in der nur ein einziger Zwangsarbeiter tätig war und auch hausen musste, mehrere Lager mit 20 oder 30 Insassen, aber auch das riesige Lager in Haselhorst mit mindestens 3.000 Insassen, die bei Siemens schufteten. Für die Zwangsarbeiter bei Siemens in Spandau gab es auch im benachbarten Falkensee riesige Lager. Der Historiker Florian Kemmelmeier von der „Topographie des Terrors“ führte im Auftrag des Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit im Siemens-Archiv gerade Archivarbeiten zur NS-Zwangsarbeit durch. Siemens unterhielt in den Kriegsjahren 127 Zwangsarbeiterlager in Berlin, mehr als jedes vierte davon in Spandau, berichtet er.
Doch es gibt auch Orte in Spandau, wo noch geforscht werden muss, ob es dort Zwangsarbeit gab. Beispielsweise die 1933/34 von der SA zu Schulungszwecken genutzten Baracken in Neu-Kladow. Man weiß nicht, ob die in den Kriegsjahren ein Zwangsarbeitslager waren. Auch zum Spandauer Horn zwischen Havel und Spree gibt es noch Fragezeichen. Archäologische Ausgrabungen brachten Indizien von Zwangsarbeit zutage, aber noch keine gesicherten Erkenntnisse, sagt Archäologe Torsten Dressler.
An anderen Orten wird darüber debattiert, ob man Orte von Zwangsarbeit erhält oder nicht. Das betrifft etwa die noch erhaltenen Baracken in West-Staaken, die zu DDR-Zeiten von den Grenztruppen genutzt wurden. Der Bezirk will dort eine Schule bauen, was den Abriss der Baracken bedeuten würde.
Seit 2005 erinnert im Evangelischen Waldkrankenhaus Spandau ein Mahnmal an die Zwangsarbeiter im Bezirk. Auch wenn das heutige Krankenhausgebäude ein authentischer Ort der Zwangsarbeit war und der Stein dem Krankenhausträger willkommen war, die Initiatoren hätten ihn gern in der Spandauer Altstadt aufgestellt. Dort, wo die Spandauer flanieren und sich treffen. Das scheiterte damals allerdings am Widerstand der CDU.
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