Roman über drei Frauenschicksale: Verletzlich im Theatersaal
„Die Feuer“ heißt der neue Roman von Claire Thomas. Sie kriecht darin in die Köpfe von drei Frauen, die sich Becketts Stück „Glückliche Tage“ ansehen.
Eine Frau, die bis zur Hüfte in einem Erdhügel vergraben, gefangen ist. Eine grelle Sonne scheint auf sie nieder. Winnie ist schon lange in dieser Notlage und bewahrt sich doch geradezu wahnhaft ihre Zuversicht: „Glückliche Tage“ heißt das Stück von Samuel Beckett.
Das absurde, tragikomische Werk hat die australische Autorin Claire Thomas stark beeindruckt, wie sie anlässlich des 60-jährigen Jubiläums seiner Uraufführung im vorigen Jahr in einem Beitrag für den Guardian schrieb. So sehr, dass sie ihm eine zentrale Rolle in ihrem zweiten Roman zukommen ließ, der nun unter dem Titel „Die Feuer“ auf Deutsch erschienen ist.
Der Originaltitel „The Performance“ trifft es besser, so bedeutsam ist die Aufführung des Stücks in formaler wie inhaltlicher Hinsicht für das Buch. Drei Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft sehen sich „Glückliche Tage“ in einem Theater in Melbourne an, während draußen unerträgliche Hitze herrscht und gefährliche Buschfeuer wüten.
Und damit wäre die reine Handlungsebene fast schon vollständig beschrieben, denn die Autorin wagt eine herausfordernde erzählerische Konstellation: Alleiniger Handlungsort ist das Theater, die Frauen begegnen sich nur kurz in der Pause. Die längste Zeit sitzen sie fast bewegungslos – Winnie gleich – im Theatersaal.
Assoziative Gedankenspiralen
Thomas kriecht also in die Köpfe ihrer Protagonistinnen, dort spielt sich das „Geschehen“ ab: in ihren Gedanken, Erinnerungen, Selbstbefragungen und Beobachtungen. Winnie auf der Bühne ist immer wieder Stichwortgeberin, Sätze ihres Monologs lösen assoziativ die Gedankenspiralen aus. Das Stück strukturiert auf diese Weise den Roman, dessen lange Kapitel sich abwechselnd je einer der Frauen zuwenden.
Da ist Margot, Anfang 70, Literaturprofessorin, die sich mit der Entfremdung ihrem Sohn gegenüber auseinandersetzt. Dringlicher noch mit der Gewalttätigkeit ihres Mannes, ausgelöst durch dessen Demenz. Mit ihrem Schweigen darüber.
Ivy, ehemalige Studentin Margots, ist mit Anfang vierzig zum zweiten Mal Mutter geworden. Ihre Freude darüber trifft auf die Trauer um einen lang zurückliegenden Verlust: „So, wie ihr verlorenes Kind nicht altert, altert auch ihre Trauer nicht. Die Trauer fühlt sich nicht an, als wäre sie viele Jahre alt. […] Wenn Ivy sie spürt, ist sie wie eine Welle, unverändert, trotz der Fakten, trotz der Jahre.“
Intimität, Verletzlichkeit, Ängste
Die Lebendigkeit der Figuren entsteht durch Thomas’ Nähe zu ihnen, in die sie die Lesenden von Beginn an hineinzuziehen vermag. Es ist, als befördere der Theatersaal – ein öffentlicher Ort, in dessen Dunkelheit doch jede geschützt für sich auf ihrem Platz sitzt – eine Art Intimität, eine Durchlässigkeit für die Verletzlichkeit und Ängste der Frauen. Und Winnie wird gleichsam zur vierten Protagonistin, in deren Not und oft existenziellen Fragen – „Was ist die Idee von dir? Was soll das bedeuten?“ – die anderen sich spiegeln, der sie ihre je passenden Interpretationen zuweisen.
Claire Thomas: „Die Feuer“, Aus dem Englischen von Eva Bonné. Hanser Verlag, München 2022, 256 Seiten, 23 Euro
Für die 22-jährige Schauspielschülerin Summer, die als Platzanweiserin jobbt, spielt der Aspekt der sterbenden Erde, in der Winnie begraben ist, eine große Rolle. Die Klimakrise, fassbar in den Buschfeuern vor den Türen des Theaters. Was kann die Kunst da ausrichten? Ihre Angst ist so stark wie ihre Wut: auf ihre weiße Mutter, die der Tochter, die aufgrund ihres „Olivteints“ oft mit Rassismus konfrontiert ist, nichts über den Vater verrät; auf wohlmeinende Weiße, die sie für eine Aborigine halten.
Dynamik entsteht auch in der kunstvollen Verknüpfung der Erzählstränge untereinander. Etwa durch Themen wie das der Mutterschaft. Während Margot sich nie als „mütterlich“ erlebt hat, ist sie bei Ivy mit der Ambivalenz von Freude und Angst verbunden. Bei beiden aber geht es um das Gefühl des Kontrollverlusts.
Wenn Ivy sich an ihre Zeit als Studentin erinnert, schimmern die Radikalität und Unsicherheit Summers hindurch. Derlei Überlagerungen, Anknüpfungen wirken wie gegenseitige Ergänzungen, Erweiterungen und schaffen eine Verbindung zwischen den Figuren, lösen sie aus der Isolation. Und sie geben dem Text eine komplexe Vielschichtigkeit.
Darin offenbart sich der genaue Blick der Autorin, mit dem sie auf die Gegenwart schaut; und auf die Erfahrungen dreier Frauen in dieser Gegenwart. Dabei stehen, wie im Stück, existenzielle Erfahrungen neben alltäglichen: sich zum Beispiel selbst dabei ertappen, wie man sich in der Falle der eigenen Voreingenommenheiten verheddert.
Auch wenn Thomas’ Fokus auf dem Zweifel, ja der Angst als einem Grundkern des Lebens liegt, ist ihr Ton kein leidender, schwerer. So sind die Frauen sich auch ihrer Stärken, Erfolge, ihrer Lieben, Freundschaften oder klaren Wünsche bewusst. Sie stehen ja mitten in ihrem Leben. Sie sollten, auch das kann man aus Thomas’ Roman herauslesen, dort nicht isoliert voneinander stehen. Sie sollten sich begegnen, sich ihre Geschichten erzählen, sprechen. Ivy, Margot und Summer haben das auf je verschiedene Weise nach ihrem Theaterbesuch fest vor.
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