Nach den Gesprächen in Istanbul: Einigung in weiter Ferne
Kiews Skepsis gegenüber Moskaus angekündigtem Teilrückzug ist berechtigt. Denn an Russlands Kriegszielen hat sich nichts geändert.
D ie nordukrainische Stadt Tschernihiw unter Dauerbeschuss, der Abzug einiger Truppen aus dem Großraum Kiew, die dann in den Osten geschickt werden: So sieht sie aus, Moskaus Reduzierung militärischer Aktivitäten in der Ukraine, die Russland nach den Istanbuler Gesprächen am Dienstag angekündigt und der Öffentlichkeit als „vertrauensbildende Maßnahme“ zu verkaufen versucht hatte. Wer an solchen hanebüchenen Unsinn glaubt, sollte lieber ein Märchenbuch zur Hand nehmen. Von „diplomatischen“ Fortschritten kann keine Rede sein.
Deshalb ist die Skepsis der ukrainischen Seite berechtigt. Denn an dem eigentlichen Kriegsziel des Kreml, wenngleich der mangels militärischer Erfolge seine Gewinnerwartung reduzieren muss, hat sich nichts geändert: Vernichtung des „Feindes“ nebst der dauerhaften Kontrolle über den gesamten Donbass sowie einiger Regionen im Süden der Ukraine.
Aber auch die Umsetzung der nachvollziehbaren Forderungen Kiews wirft Fragen auf. Es braucht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie künftig internationale Sicherheitsgarantien für eine neutrale Ukraine durchgesetzt werden sollen. Mit Waffenlieferungen und ansonsten vornehmer Zurückhaltung dürfte es nicht getan sein.
Derweil versucht Russland in Luhansk und Donezk weiter Fakten zu schaffen, wobei die örtliche Bevölkerung es angeblich nicht erwarten kann, endlich in die russische Welt zurückgebombt zu werden. Sollte wenigstens diese feindliche Übernahme in Gänze gelingen, dürfte sich Moskau kaum, wie von Kiew zur Bedingung gemacht, zu Verhandlungen über diese Gebiete bereit finden.
Doch den Donbass kampflos aufzugeben, ist für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski keine Option. Dafür ist der Preis bereits zu hoch, den das Land und seine Menschen entrichtet haben. Aber auch der Druck auf Russlands Führung wächst – jetzt auch von denjenigen, für die jeder Kompromiss mit Kiew ein Verrat an Russland wäre. Wie heißt es so schön aus Moskau? Der Weg bis zu einer Übereinkunft ist noch lang. Wohl wahr. Und mit vielen Leichen gepflastert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod