Glücksmomente im Alltag: Eins mit der Welt
Wenn es um uns herum laut und wüst wird, vergessen wir, auf unsere innere Stimme zu hören. Dabei ist sie immer da und ein Weg zum Glück.
D er Regen hat aufgehört. Ich fahre auf dem Rad die Feldstraße hinunter. Es ist früher Morgen. Die Sonne schiebt sich zwischen den Wolken hervor. Auf dem Heiligengeistfeld blitzen die Fahrgeschäfte des Hamburger Doms im Licht. Groß und still liegen sie dort, bereit für den Frühlingsdom.
Die Luft ist frisch. Ein plötzliches Gefühl der Lebendigkeit steigt in mir empor. Genau in diesem Moment hebt ein Mann auf der gegenüberliegenden Fahrseite das Vorderrad seines Fahrrads hoch. Zehn Meter, zwanzig Meter lang balanciert er es in der Luft, fährt nur auf seinem Hinterrad an mir vorbei. Die Straße ist frei. Seine Bewegung ist der perfekte, synchrone Ausdruck meines Hochgefühls.
Ich biege ab, Möwen kreischen in der Luft. Ein Fußgänger kommt mir entgegen. Auf seinen Wangenknochen sind links und rechts fliegende Vögel eintätowiert. Wieder findet der Moment, den ich wahrnehme, in einem Bild seinen synchronen Ausdruck. Innerlich schüttle ich den Kopf. Wie kann das sein?
Ich denke an das Prinzip, das C. G. Jung Synchronizität nannte. Es meint das Zusammentreffen von Ereignissen. Wenn etwas in uns, woran wir denken oder was wir wollen, gleichzeitig im Außen auftritt: ein Moment der Übereinstimmung.
In diesen Wochen seit dem Angriff auf die Ukraine scheint vieles auseinanderzudriften. Unser eigenes Gefühl von Gerechtigkeit, unser Bedürfnis nach Frieden und Ruhe läuft verquer mit einer Welt, die immer mehr aus den Fugen zu geraten scheint. Doch in all dem liegt auch immer wieder das: Übereinstimmung.
Es ist erstaunlich, wie oft ich es selbst erlebe und wie oft mir andere davon erzählen. Dass sie von einem Menschen träumen, den sie schon lange nicht mehr gesehen haben oder an ihn denken. Und kurz darauf ruft diese Person an oder ihr passiert etwas Besonderes. Oder man nimmt sich etwas vor, wünscht sich etwas und plötzlich steht es da oder man trifft einen Menschen, der einem in dieser Sache weiterhilft.
Man kann zu diesem Phänomen unterschiedliche Erklärungen oder Überzeugungen haben. Doch wir alle werden sie schon einmal erfahren haben: Momente der Synchronizität, in denen sich etwas verbindet, einrastet. Das erleben wir vor allem dann, wenn wir dafür offen sind – und wenn wir bewusste Entscheidungen treffen: Sobald man sich einem Vorhaben verpflichtet, Verantwortung dafür übernimmt, so schwierig es auch erscheinen mag, ergeben sich oft ungeahnte Fügungen, werden Pläne unterstützt, sodass sie schließlich glücken. Goethe schrieb: „Was immer Du meinst oder glaubst, tun zu können, beginne damit. Handeln ist Magie. Anmut und Kraft.“
In unserer westlichen Welt wird der Intuition wenig Bedeutung geschenkt: etwas zu tun oder zu lassen, weil es sich stimmig, synchron mit einer inneren Ahnung anfühlt. Dabei kennen wir das richtige Timing.
Anfang März war ich bei Freunden, deren kleiner Sohn Ende März Geburtstag hatte. Er wollte unbedingt noch für den März seine Geburtstagsfeier im Wald planen und nicht am ersten Aprilwochenende, wie es die Eltern überlegten. Die Familie hatte schon oft erlebt, dass etwas, was ihr Sohn will, sich im Nachhinein als richtig herausstellt. Die Eltern richteten sich nach seinem Wunsch. Er feierte am letzten Märzwochenende, das ungewöhnlich warm und sonnig war. Es war ein perfekter Tag. Am ersten Aprilwochenende brach die Temperatur ein. Es schneite. Die Mutter war krank.
Die Eltern fragten sich: War es Zufall, dass ihr Junge darauf bestanden hatte? Oder hat er eine Art übersinnliche Gabe? Das Kind machte sich darüber keine Gedanken. Es hatte einfach seiner Intuition vertraut. Die Eltern fragen sich, wie sie das in ihrem Kind fördern können: die innere Stimme zu hören und ihr zu trauen. Dem Flüstern in uns, das ahnt und weiß, was stimmig ist. Gerade dann, wenn es um einen herum laut und wüst wird, vergisst man es. Aber das Flüstern ist da. Pssssst! Auch heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene