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Pro & Contra Corona-MaßnahmenDürfen die Regeln fallen?

Erik Peter
Kommentar von Erik Peter und Susanne Messmer

Nach einer Übergangsfrist werden zum April auch in Berlin die meisten Corona-Regeln fallen. Höchste Zeit oder eine fatale Entscheidung?

Ob Masken oder welche, ist schon bald eine persönliche Entscheidung Foto: dpa

Ja

V ergangenen Samstag in einer Neuköllner Bar: Es ist gerammelt voll, auch im schmalen Gang zwischen Tresen und Tischen stauen sich die Gäste. Die Atmosphäre ist gelöst, von Corona-Angst nichts zu spüren. Auf dem Weg zur Toilette heißt es dann aber: Maske auf. Das Ritual ist so eingeübt wie sinnlos. Anderswo, etwa in den Clubs, die nach schier endloser Zeit wieder geöffnet sind, wird auf das Pro-forma-Anlegen der Maske gleich gänzlich verzichtet. Und auch auf den Stadientribünen wird längst wieder maskenfrei gesungen.

Das faktische Ende der Regelbefolgung zeigt sich umso mehr im Privaten. Für viele ist der Verzicht auf die Geburtstagsparty keine Option mehr. Nach zwei Jahren im Ausnahmezustand giert die Mehrheit der Menschen – die Rede ist ausdrücklich nicht von Pan­de­mi­e­leug­ne­r:in­nen – auf eine Rückkehr zur sozialen Normalität und ist nicht mehr willens, weitere Einschränkungen hinzunehmen. Wozu auch sonst hat man sich dreimal impfen lassen, in vielen Fällen auch schon eine Infektion durchgestanden?

Die Gesellschaft hat gelernt, mit dem Virus zu leben und sie hat recht damit. 84,6 Prozent der über 18-Jähringen in Berlin sind doppelt geimpft, fast genauso viele der über 60-Jährigen bereits geboostert. Die meisten Erkrankungen verlaufen leichter, ein immer kleinerer Promilleanteil der Erkrankten landet auf den Intensivstationen, von einer Überlastung des Gesundheitssystems sind wir weit entfernt, vom Zusammenbruch der kritischen Infrastruktur – vor Kurzem noch ein großes Thema – spricht niemand mehr.

Dass die Bundespolitik nun nachzieht und den Großteil der Schutzmaßnahmen fallen lässt, ist daher verständlich. Regeln ergeben nur so lange Sinn, wie sie zumindest von der Mehrheit verstanden und befolgt werden. Und ein Ausnahmezustand ist nur zu rechtfertigen, wenn er die zeitlich begrenzte Ausnahme bleibt. Dass anders als vor einem Jahr, als bei einer Inzidenz von 100 allgemeine Panik angesagt war, nun bei Werten von 1.500 Gelassenheit herrscht, ist auf die veränderte Situation zurückzuführen, aber auch auf den Gewohnheitseffekt.

Wenn nun zur Normalität zurückgekehrt wird, ist das für viele zurückgewonnene Sicherheit: Messen müssen nicht mehr abgesagt werden, Restaurants nicht die nächste Schließung befürchten, Kulturveranstaltungen können wieder normal stattfinden. Einher damit geht aber auch eine Verantwortung: Wer sich krank fühlt oder Kontakt zu Erkrankten hatte, muss auch ohne Quarantäneregeln jedes Ansteckungsrisiko für andere vermeiden. Geht es dennoch so richtig schief, bleibt Berlin die Möglichkeit, als Hotspot wieder verschärfte Regeln zu verhängen. Das Signal dann würde immerhin lauten: Jetzt ist es wieder richtig ernst. Erik Peter

Nein

Nach einem kurzen Sommer der Freiheit und Lebensfreude 2021 leben wir seit einem Dreivierteljahr wieder so isoliert, wie uns das möglich ist, ohne dabei verrückt zu werden. Wir arbeiten fast ausschließlich im Homeoffice, machen nur die Termine, die wir online nicht machen können, und treffen uns gerade so oft mit unseren Freunden, dass sie noch unsere Freunde bleiben. Unsere 13-jährige Tochter und den 8-jährigen Sohn haben wir dank ausgesetzter Präsenzpflicht auch dann noch aus der Schule genommen, als in unserem Umfeld schon kaum mehr jemand daran dachte.

Wir besuchen nur dann mit ihnen Kulturveranstaltungen, wenn sie sich mal wieder beklagen, dass sie nicht einmal mehr wissen, wie Popcorn im Kino schmeckt. Der Grund für all das: Mein Mann ist im Sommer schwer erkrankt. Er hat immer noch mit dieser Krankheit zu tun. Seine Ärzte sagen nicht alle dasselbe. Aber der Tenor ist und bleibt, dass er sich trotz dritter Impfung im Dezember im Moment besser nicht mit dem Coronavirus anstecken sollte.

Wir haben das allergrößte Verständnis dafür, dass die Welt nichts mehr wissen will von Corona, dass die Menschen nach zwei harten Jahren endlich zurückmöchten in ihre Normalität – und dass viele erleichtert wären, wenn der Bund beschließt, ab dem 20. März einen Großteil der Corona-Maßnahmen auslaufen zu lassen.

Was wir aber nicht verstehen: Angeblich wird das alles auch deshalb beschlossen, weil eine Gesellschaft immer nur eine Krise auf einmal verkraften kann. Gerade vor diesem Hintergrund empfinden wir es als geradezu irrsinnig, so leichte und mühelose Beschränkungen fallen zu lassen wie die Maskenpflicht im Einzelhandel. Es kostet keinen Menschen Mühe, ein- oder zweimal die Woche 20 Minuten im Supermarkt eine Maske zu tragen. Wer Partys wegen begrenzter Personenanzahl splittet, der kann einfach zweimal feiern. Selbst kleine Änderungen in eingeübter Selbstbeschränkung wie diese verbrauchen in Politik und Verwaltung Energie. Und jede noch so kleine Menge Energie wird gerade auf anderen Baustellen wie der Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine dringender gebraucht.

Das Virus ist immer noch gefährlich, nicht nur für uns. Wer jetzt plötzlich an mehr Eigenverantwortungen appelliert, der hätte das auch in den letzten beiden Jahren tun können. Wenn Deutschland jetzt trotz steigender Ansteckungszahlen am Freitag weitgehende Lockerungen beschließt, wirkt das auf uns wie ein faules Zugeständnis. Wenn Berlin doch bloß auf die Notbremse treten und sich selbst zum Hotspot erklären könnte, um die schärferen Maßnahmen auch über die Übergangsfrist, die der Bund gewährt, hinaus zu verlängern – dann hätten wir mal das Gefühl, in der besten Stadt der Welt zu leben. Susanne Messmer

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Erik Peter
Politik | Berlin
Redakteur für parlamentarische und außerparlamentarische Politik in Berlin, für Krawall und Remmidemmi. Schreibt über soziale Bewegungen, Innenpolitik, Stadtentwicklung und alles, was sonst polarisiert. War zu hören im Podcast "Lokalrunde".
Redakteurin taz.Berlin
Jahrgang 1971, schrieb 1995 ihren ersten Kulturtext für die taz und arbeitet seit 2001 immer wieder als Redakteurin für die taz. Sie machte einen Dokumentarfilm („Beijing Bubbles“) und schrieb zwei Bücher über China („Peking" und "Chinageschichten“).