: Lieben und klagen
VERMÄCHTNIS Warum schreiben Menschen Tagebuch? „Sie wollen Spuren hinterlassen“, sagt Frauke von Troschke vom Deutschen Tagebucharchiv
AUS EMMENDINGEN FELIX ZIMMERMANN
Du liest Rufe, die ins Nichts gehen, liest vom Schrecken des Krieges, geschrieben in dünner, manchmal ungelenker Schrift, liest Liebeserklärungen an den neugeborenen Sohn, an den Mann, der fern im Krieg ist, an die Frau, die zu Hause wartet, liest von Liebe, die unbeantwortet bleibt, von Depression und Zurückweisung, von der Kartoffelernte, die reich ist, liest von Selbstmordgedanken und immer wieder von Hoffnung. Du liest in fremder Leute Tagebücher.
Südbaden, Kaiserstuhl, Kleinstadtidyll. Oben unterm Dach im alten Emmendinger Rathaus: das Deutsche Tagebucharchiv. Zwei Treppen hoch, im Bürgersaal feiert jemand Hochzeit, du siehst Männer in Anzügen, Sektgläser werden gereicht, Frauen in Kleidern, gehst weiter, die Treppe wird enger, die Stufen sind abgewetzt. Still ist es da. Du bist allein mit tausenden Büchern. Winzige Handschriften, schlechtes Papier, sorgsam gezeichnete Blumen, Schriftbilder, die verwischen, wenn der Schreibende älter wird oder krank.
Du blätterst, verlierst dich, liest, was Theodor Wolff, der berühmte linksliberale Journalist des Berliner Tagblatts, für seine Kinder notierte, als die Kleinen noch klein waren. „Meines Sohnes Tagebuch“ nennt er es, begonnen mit der Geburt des Bübchens Richard, genannt Butzi, 1906, als Wolff Chefredakteur der Zeitung wird: „Gleich im ersten Moment deines Lebens öffnetest du ohne jede Schüchternheit die Augen, und du blicktest um dich, ohne noch zu sehen, genau wie manch’ preußischer Staatsbürger in weit reiferen Lebensjahren.“ Wolff schreibt von Urlauben an der Nordsee, berichtet, wie ein Bruder und eine Schwester geboren werden, heitere Zeiten, „Mama und ich, wir konnten uns nur beglückt anlächeln – es war wunderschön, strahlender als alle Sonnen der Welt“, schreibt er am 12. September 1912. Gegen Ende der Aufzeichnungen, 1913, trübt sich die Stimmung, auch davon will er seinen Kindern berichten: „Berlin ist nicht die Stadt meiner Ideale, ich habe eine enorme Arbeitslast und Verantwortung und werde von politischen Gegnern, Neidern und allerlei Lumpenzeug täglich angegriffen und angespieen, wie kaum jemand sonst.“ Wer weiß, dass Wolff von den Nazis umgebracht wurde, ahnt da schon, was auf ihn, diesen zärtlichen, politischen Mann, zukommt.
Sie schreiben
Du findest Luise Stiebers Tagebuch, geführt vom 22. Januar 1944 bis in den Juli 1948. Eine einfache Frau, die ihrem Mann Paul schreibt, von dem Tag an, als – ihre Worte – „das Schicksal zum Schlag ausholt“. Am 16. Januar 1944 „bekam ich von Deinem Kompaniechef den Bescheid, daß Du seit 25. 11. 43 gegen 15 Uhr vermißt bist“. Irgendwo in Russland. Du hörst sie klagen: „Ach ich bin des Kampfes müde. Wie lange soll ich dieses Elend schleppen. Warum nur liege ich nicht unter Trümmern.“ Das schreibt sie am 18. 8. 44. Du blätterst weiter, der 12. 9. 44: „Paul, fühlst Du wie ich Dich mit meinen Gedanken, mit meiner ganzen Seele suche? Hörst Du mein Rufen? Warum finde ich Dich nicht? Warum gibst Du mir keine Antwort? O dieses Rußland!“ All diese Fragen. Monate. Jahre. Du folgst Luise Stieber durch die Zeit, siehst mit ihr Hoffnung und wie diese erlischt, siehst die Kinder groß werden, erlebst, wie sie die Gärtnerei nach Bombenangriffen immer wieder aufbaut, Stauden pflanzt und Gurken zieht, Glas besorgt für die zerschossenen Gewächshäuser, verzweifelt. 29. 10. 45: „Wie sucht Dich meine Seele. Ob ich noch Liebe empfinden kann, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich mich unendlich nach Dir sehne. […] Mir graut oft vor mir selbst. Könnte ich doch mich mit Dir aussprechen, wie bald wäre dann wieder alles anders.“ Privateste Erinnerungen sind das.
Du denkst, vielleicht, an „Jugend ohne Gott“, Horváth, wie der Lehrer mit dem Draht das Schloss des Tagebuchs des Z. erbricht – „erbricht“, so hieß es damals – und er Dinge erfährt, die er nicht wissen darf. Wie er Scham fühlt, so wie du jetzt. Das Schloss zu brechen, großes Tabu. Was geht’s dich an?
Dann steht Frauke von Troschke im Raum, lächelt, erlöst dich von den Gedanken. Hier darfst du das. Jedes Tagebuch, das bei ihr eingeht, darf gelesen, nicht aus jedem zitiert werden, darauf verweist ein signalfarbener Aufkleber. Achtzehn Archivschränke, gefüllt mit den Aufzeichnungen von Menschen, die ihr Leben zu Papier gebracht haben, oder einen Teil ihres Lebens. Sie schreiben, „wenn ihnen die Gefühle überlaufen, in die eine oder andere Richtung“, sagt von Troschke. Weil sie lieben oder trauern, weil sie in Grenzsituationen sind – sich fragen: Wie geht es weiter? So wie Luise Stieber. Als sie Nachricht bekommt, dass ihr Mann, Paul, vermisst wird, beginnt sie zu schreiben. An ihn, weil sie ihn braucht wie zuvor, den Austausch mit ihm. Das Buch, die Schrift, ersetzt die Schulter, an die sie sich so gerne lehnen würde, wie sie schreibt. Sie schreibt also auch: für sich selbst. Jetzt liest du es.
Vierzehn Jahre her, da gründete von Troschke den eingetragenen Verein Deutsches Tagebucharchiv. Seitdem sammelt sie. Eine Stelle kann der Verein finanzieren, die übrigen 120 Mitarbeiter sind Ehrenamtliche. Sie lesen, transkribieren, verschlagworten, fotokopieren, ordnen. „Ein Segen“, sagt von Troschke, ohne sie gebe es dieses Archiv nicht.
Von einem Besuch in der Toskana bei ihrer Schwester hat sie die Idee mitgebracht. Vorbild war das Archivio Diaristico Nazionale in Pieve S. Stefano bei Arezzo. 1985 wurde es von dem Journalisten Saverio Tutino gegründet. „So etwas gibt es in Deutschland noch nicht“, sagte die Schwester. Emmendingens Bürgermeister, zu dem sie mit der Idee ging, war sofort begeistert, sagt: „Machen Sie’s, ehe es uns jemand wegnimmt.“ Jetzt schließen von Troschkes Leute E-Mails mit „Grüßen aus der Stadt der Tagebücher“.
Frauke von Troschke sagt, sie habe einen sozialen Touch. Um ihren Hals leuchten grüne Kieselsteine an einer Kette, das Haar ist strubbelig, die Jacke sommerlich, sie sieht nach Garten aus, und genau da will sie gleich hin, am nächsten Tag hat sie frei. Keine Bücher, ausnahmsweise mal. Sie gehört zu denen, die im Zug eine Unterhaltung beginnen, aus Neugier. Sie fragt, will wissen. Daher auch das Interesse für Aufzeichnungen, Tagebücher, Erinnerungen. Voyeurismus? Vielleicht ein bisschen. „Uns geht es um die Zeitgeschichte – was haben die Menschen gefühlt, geschrieben, gedacht?“ Das Archiv arbeitet eng mit der Universität Freiburg zusammen, Forscher kommen – das macht von Troschke stolz, wenn sie daran denkt, wie klein alles anfing. Mit einer Schreibmaschine verwaltete sie die Einsendungen. Dann gab es erste Zeitungsartikel, seitdem nahm es seinen Lauf. 12.000 Titel haben sie jetzt. Gerade sind Engländer da, die wissen wollen, wie ganz normale Deutsche die Nachkriegszeit erlebten.
Warum schreiben Menschen Tagebuch und warum geben sie ihre Erinnerungen ins Archiv? „Weil sie Spuren hinterlassen wollen.“ Weil sie finden, dass die, „die nach mir kommen, erfahren sollen, was los war“, vielleicht auch „um Mut zu machen: Seht mal, was ich erlebt habe – und ich hab’s geschafft.“ Positives Sendungsbewusstsein nennt von Troschke das, eitel findet sie es nicht. „Sie haben ja nichts davon.“
Du liest
Theodor Wolff schrieb für seine Kinder, oder doch für sich, um festzuhalten, weil ihn die Zeit mit seinen Kindern so bewegte. Ähnlich zunächst bei Otto Knopf. Der zeigt in der Jenaischen Zeitung die Geburt seines Sohnes Walther am 1. XII. 1894 an, am selben Tag beginnt er das Tagebuch über ihn. „Der Junge wurde früh um 2 h 10 MEZ von Dr. Giese mit der Zange zur Welt befördert. Mit dem Gesicht aufs Bett geworfen, stößt er gleich einen kräftigen Schrei aus.“ Er protokolliert die Gewichtszunahme des Säuglings, geht über zu Schilderungen der ersten Sprechversuche – was Väter voller Glück so schreiben – und wird zum Totenkläger, als Walther, Soldat dann, im Ersten Weltkrieg fällt. Wieder ist es der 1. XII., diesmal des Jahres 1917: „Am heutigen Tage, dem 23. Geburtstag meines lieben, nun schon seit über einem Vierteljahr in französischer Erde ruhenden Walther, will ich diese Aufzeichnungen bis zu seinem Todestag ergänzen und so den Tag der Erinnerung an meinen guten Jungen weihen.“
Und Luise Stieber? Nichts hat sie über all die Jahre von ihrem Paul gehört. Anderer Frauen Männer kamen zurück, ihrer nicht. Gerade hat sie eine Operation überstanden, sie ist krank, kann die Gärtnerei – „deine geliebte Gärtnerei“ – nicht weiterführen, muss den Betrieb aus der Hand geben. „Ach Paul, immer noch hoffe ich auf Deine Heimkehr. Wie wirst Du denn einen solchen Schritt beurteilen? Wirst Du es verstehen?“ Dann ist es zu Ende. Juli 1948.
Tagebuchschreiber sagen etwas, ins Innere geschrieben, zu sich selbst. Sie halten fest, was geschah, richten sich an den, der nicht mehr da ist. Ausschnitte eines Lebens. Krieg, Angst, Not. Jetzt liest du es, atemlos, bis du gehen musst, weil das Archiv freitags um zwölf schließt. Du bist schon viel länger geblieben. Nur Frau Türk ist noch da, die unermüdliche Kopiererin. Geht auf die 90 zu, kommt, so oft es geht, sichert die Originale. „Ja“, sagt sie, „die Hefteln haben einem eine Menge zu sagen.“ Jetzt geh.
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