Interview mit Mobilitätsforscher: „Gewinner ist das Fahrrad“
Die Coronapandemie hat die Mobilität der Berliner*innen nachhaltig verändert. Wissenschaftler*innen von TU und FU werteten Bewegungsdaten aus.
taz: Herr Kellermann, hat sich die Mobilität der Berliner*innen seit Beginn der Pandemie verändert?
Robin Kellermann: Mobilität ist in der Pandemie kleinteiliger und nahräumlicher geworden. Die Berliner*innen haben versucht, ihre alltäglichen Bedürfnisse näher an ihren Wohnorten zu befriedigen. Im ersten Pandemiejahr 2020 bedeutete das, dass sie sich pro Tag rund drei Kilometer weniger durch die Stadt bewegt haben. Das klingt nicht viel, ist aber tatsächlich ein historisches Ausmaß. Dazu kommt, dass die Berliner*innen seltener unterwegs waren. Die Zahl der Wege ist um 11 Prozent gesunken. Das liegt zum Beispiel daran, dass viele Wege wegen Quarantäne, Homeschooling und Homeoffice weggefallen sind.
Robin Kellermann, 39, ist Mobilitätsforscher an der TU Berlin und Projektleiter des Berlin Mobility Data Hub.
Sie haben zwischen März 2020 und September 2021 drei Pandemiewellen untersucht. Gab es nach der ersten Welle Veränderungen?
Jede Welle hatte ihre eigene Dynamik. Die erste war wie ein Einfrieren des Mobilitätsverhaltens. Das war noch deutlich vom Schock über dieses neue Ereignis geprägt. Es gab einen massiven Rückgang des Mobilitätsniveaus. In der zweiten Welle brach die Mobilität nicht mehr so stark ein. Das liegt vor allem daran, dass viele von Bus und Bahn aufs Fahrrad umgestiegen sind und trotz steigender Fallzahlen und dem zweiten Lockdown mobil blieben. Und in der dritten Welle war der Einbruch noch geringer – vor allem, weil diejenigen, die dann noch mit Bus und Bahn gefahren sind, zum harten Kern der ÖPNV-Nutzer*innen gehörten: Das heißt, sie konnten nicht auf den öffentlichen Nahverkehr verzichten.
Bus und Bahn sind unter den Verkehrsmitteln die großen Verlierer der Pandemie?
Ja, der Bedeutungsverlust hat sich im ersten Pandemiejahr schon abgezeichnet. Im Grunde konnte sich der ÖPNV schon von der ersten Welle nie wieder erholen. Er wird noch immer 30 bis 40 Prozent weniger genutzt als vor der Pandemie. Verglichen mit anderen europäischen Großstädten, zum Beispiel mit Italien oder Spanien, war der Einbruch allerdings nicht ganz so dramatisch.
Wie haben sich die Menschen stattdessen fortbewegt?
Die meisten Wege gehen die Berliner*innen immer noch zu Fuß. Der zentrale Gewinner ist jedoch das Fahrrad. Die Anzahl der Wege mit dem Fahrrad und auch die Länge der zurückgelegten Strecken stieg während der ersten Welle schon stark an und in der zweiten noch stärker.
Die Studie von TU Berlin und FU Berlin basiert auf den Daten von Tracking-Apps, unter anderem von der Berliner Firma Motiontag. Von Januar 2019 bis September 2021 zeichneten die Apps die Bewegungen von rund 550 Nutzer*innen in Berlin auf. Zusätzlich fragten die Apps ab, welches Verkehrsmittel sie genommen hatten. Insgesamt haben die Forscher*innen rund 800.000 Trips ausgewertet, die sie tagesaktuell nachvollziehen können. So konnten sie den Berliner Verkehr nicht nur zwischen den Pandemiewellen vergleichen, sondern auch analysieren, wie sich das Mobilitätsverhalten langfristig geändert hat.
Das Berlin Mobility Data Hub ist eine Forschungskooperation, die von Mobilitätsforscher*innen der TU Berlin und Wirtschaftsinformatikern der FU Berlin geleitet wird. Der Verbund soll unterschiedliche Datenquellen auswerten und untersuchen, wie der Berliner Verkehr nachhaltiger werden kann und welche Auswirkungen die Coronapandemie auf den Berliner Verkehr hat. (taz)
Warum dieser Umstieg auf das Fahrrad?
Der Umstieg aufs Rad dürfte vielen Berliner*innen als vergleichsweise einfach, günstig und effektiv erschienen sein, um mobil zu bleiben, ohne sich dabei mit Corona anzustecken. Das kann man auch als Lerneffekt interpretieren. Weil Menschen, die sich vielleicht im Frühjahr/Sommer 2020 zum ersten Mal ein gutes Fahrrad gekauft haben, sich daran gewöhnt haben und dann beim Anschwellen der zweiten Welle weiter mobil bleiben wollten. Die Leute sind in der zweiten Welle nicht nur häufiger mit dem Rad gefahren, sondern auch im Schnitt viermal so weit – selbst im Dezember. Das sind große Steigerungsraten, aber damit sind wir natürlich nicht Kopenhagen oder Amsterdam. Wir sind noch keine Fahrradstadt.
Die Befürchtungen waren groß, dass das Auto der große Gewinner der Krise ist. Hat sich das bewahrheitet?
Nein, das Auto ist nach unserer Ansicht kein Gewinner der Pandemie. Es dient immer noch als Rückgrat für mittlere Distanzen, also zum Beispiel für Pendler*innen. Es ist aber in etwa auf dem Niveau von vor der Krise geblieben.
Woran liegt das?
Das hat in Berlin vor allem drei Gründe: Zum einen baute die Mobilitätskultur in Berlin schon immer stark auf dem Fußverkehr, dem ÖPNV und zuletzt auch dem Radverkehr auf. Das Auto ist im Stadtbild zwar sehr präsent, aber Berlin hat, verglichen mit anderen deutschen Städten, die mit Abstand geringste Motorisierungsrate. Für einen Großteil der Bevölkerung war der Umstieg aufs Auto daher keine Selbstverständlichkeit. Der zweite Grund ist ein ökonomischer. Sich schnell mal ein Auto zu beschaffen ist in einer Stadt, in der fast ein Fünftel der Bevölkerung Transferleistungen bezieht, nicht so leicht möglich. Und selbst wer aufs Auto umsteigen wollte, musste teilweise zwei Monate warten. Vorher gab es keinen Termin bei der Zulassungsstelle.
Für die Verkehrswende in Berlin braucht man sowohl Rad- als auch öffentlichen Nahverkehr. Hat die Pandemie der Verkehrswende einen Gefallen getan oder nicht?
Ja und nein. Die Pandemie war sicher ein Katalysator für den Fahrradverkehr. Vor allem, wenn es darum geht, das Fahrrad im Winter zu nutzen und damit auch längere Strecken zu absolvieren. Leider kam der Zuwachs an Radfahrenden stärker aus dem Lager der ÖPNV-Nutzer*innen als aus dem Lager der Autofahrenden. Entsprechend ist der ÖPNV als Rückgrat der Verkehrswende durch die Pandemie in eine langfristige Krise geraten. Das setzt den ÖPNV verkehrspolitisch unter Druck, denn die öffentlichen Zuschüsse, die es für eine Verkehrswende ohnehin braucht, dürften jetzt noch größer ausfallen. Das könnte viele Kritiker*innen auf den Plan rufen, die fragen, ob wir uns das leisten können.
Kann man aus Ihrer Studie ableiten, welcher Verkehr eine Stadt pandemiesicherer macht?
Eine resiliente Stadt braucht pandemiesichere Verkehrsmittel, und das sind vor allem Individualverkehrsmittel. Dazu gehört das Laufen und das Radfahren. Der Ausbau von Pop-up-Radwegen war da eine geeignete Maßnahme, um die Stadt einerseits resilient gegenüber Pandemien zu machen und die Menschen gleichzeitig mobil bleiben zu lassen. Und das auch noch klimafreundlich. Zukünftig muss aber auch der ÖPNV Teil eines resilienten, pandemiesicheren Verkehrswesens sein.
Wie nachhaltig sind die Veränderungen im Verkehr?
Der ÖPNV wird sicherlich die nächsten drei bis fünf Jahre Schwierigkeiten haben, sich auf das Vor-Pandemie-Niveau zurückzuarbeiten. Das hängt insbesondere von den nächsten Wellen, der Impfquote und auch davon ab, wie nachhaltig sich die Arbeitskultur durch die Pandemie verändert hat, also wie viele Menschen etwa weiterhin aus dem Homeoffice arbeiten werden. Der Boom des Fahrrads wird sich jedoch aller Voraussicht nach fortsetzen.
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