Zivilbevölkerung in der Ukraine: Wenn der Krieg ausbricht
Kaum jemand hatte mit einem Angriff auf das ganze Land gerechnet. Fünf Ukrainer:innen berichten.
B is zuletzt erschien mir der Einmarsch in die Ukraine unmöglich. Ich hatte ein Ticket in die Schweiz gebucht, um dort eine Zeit lang bei meinem Partner zu wohnen und neben der Arbeit ein wenig Urlaub zu machen. Mein Rucksack war bereits gepackt – mit Tischtennisschläger, Badeanzug, Wanderkleidung.
Am Donnerstag wurde ich gegen sechs Uhr von Detonationen geweckt. Das Gebäude bebte, Autosirenen heulten auf. Ich stand eine Minute nackt am Fenster, regungslos. Ich wollte wissen, was los ist. Aber natürlich kann man eine Minute nach einer Explosion nichts darüber in den Nachrichten lesen. Ich zog mich an, schnappte mir Laptop, Handy, Ladegeräte, Geld, Dokumente und den Rucksack mit dem Tischtennisschläger. Ich drehte das Gas ab und verließ die Wohnung. Ich dachte, dass ich vermutlich überreagiere. Draußen warf ich einen Blick auf unser Haus, ein neunstöckiger Wohnblock, sah aber kein Feuer. Ich war erst ein paar Schritte gegangen, als ich drei weitere Explosionen hörte. Hinter dem Gebäude leuchtete es orange.
Okay, nächster Schritt – einen geschützten Ort aufsuchen. Auf dem Weg in den Luftschutzbunker überflog ich die Nachrichten, ich las von einer Invasion, von Explosionen in ukrainischen Städten. Ich entschied mich um und beschloss, Kiew zu verlassen. Verwandte, die am Stadtrand wohnen, hatten mich für den Notfall eingeladen. Auf dem Weg zur Bahn riefen sie an: „Olha, der Krieg hat begonnen.“ Ich unterbrach sie: „Ich weiß, ich bin auf dem Weg zu euch.“ – „Gut.“
Doch als ich umstieg, kam mir ein neuer Gedanke: Sollte ich nicht besser zum Hauptbahnhof fahren und einen Intercityzug nach Lviv nehmen? Meine Mutter wohnt dort, diese Stadt würde vielleicht erst mal sicher bleiben. Auf meinem Handy sah ich, dass es keine Fahrkarten mehr gab. Alle 20 Sekunden lud ich die Seite neu, wieder und wieder, dann gab es plötzlich doch wieder Tickets. Zehn Minuten blieben mir bis zur Abfahrt. Ich war nicht sicher, ob ich es schaffen würde, und wartete mit dem Kauf des Tickets – es ist keine gute Zeit, um Geld aus dem Fenster zu werfen. Ich rannte zum Bahnsteig. In letzter Sekunde löste ich die Fahrkarte. Gut, dass es möglich ist, mit zwei Klicks zu bezahlen, es rettete mir vielleicht das Leben.
Als der Zug abfuhr, kam mir wieder ein Gedanke. Sollte ich lieber weiter nach Przemyśl in Polen fahren? Ich zögerte. Kann ich abreisen, wenn das Land in Gefahr ist? Ich beschloss, diesmal erst ein Ticket zu kaufen und dann nachzudenken. Ich telefonierte mit meinen Verwandten und meinem Freund in der Schweiz, sie drängten mich, das Land zu verlassen. Mein Freund klang gestresster als ich. Ich fühlte mich hilflos.
Die Stimmung im Zug war von Sorge erfüllt. Aber ohne zu wissen, was los war, hätte man vielleicht gar keine Veränderung bemerkt – die Leute starrten wie immer auf ihre Telefone. Alle Plätze waren belegt. Ich fing an, über Essen nachzudenken, es erschien mir unanständig. Ich überlegte, jemanden nach einem Schokoriegel zu fragen. Aber alle um mich herum sahen aus wie ich – Last-minute-Flüchtlinge.
Dann unterhielt ich mich eine Weile, über die schöne Landschaft von Podolien und über das Granit, das dort abgebaut wird. Später kam ich mit einem Mann ins Gespräch, der es geschafft hatte, Proviant zu besorgen. „Haben Sie etwas zu essen?“, fragte ich. Er nahm fünf kleine schmutzige Äpfel aus dem Rucksack. Sie stammten aus seinem Garten. Eine andere Passagierin teilte Schokolade, Joghurt und Chips. Sie sagte, sie könne nicht essen, wenn sie gestresst sei. Bei mir ist es umgekehrt.
Aus Sicherheitsgründen fuhr der Zug nur 60 km/h. Die Fahrt dauerte 14 Stunden, wir kamen mit einer Verspätung von sechs Stunden im polnischen Przemyśl an. Viele Leute warteten im Bahnhof auf Anschlusszüge. Einige versuchten, Unterkünfte zu buchen. Freiwillige Helfer brachten Tee und Suppe, internationale Journalisten führten Interviews. Ich kontaktierte eine Freundin in Krakau und buchte ein Busticket. Am Freitag um 5 Uhr morgens erreichte ich Krakau.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ich fühle mich hier sicher, aber auch irgendwie schuldig, weil ich gegangen bin. Freunde von mir konnten ihre Kinder und Haustiere nicht evakuieren und sind deshalb geblieben. Die Kämpfe um den Flughafen Hostomel fanden ganz in der Nähe des Vorstadthauses meiner Verwandten statt. Am meisten sorge ich mich um die ukrainischen Soldaten, die mit einem militärisch stärkeren Feind kämpfen müssen.
Die Ukraine ist nicht Russland – das wird Putin früher oder später begreifen müssen. Die Ukraine hat sich entschieden, für die Werte der Demokratie einzutreten. Selbst wenn sie damit allein gelassen wird, wird sie Widerstand leisten.
Olha M., Uni-Dozentin aus Kiew
Aus dem Englischen von Nora Belghaus
Oksana P., Journalistin aus Kiew
Am Donnerstagmorgen bin ich von den lauten Explosionsgeräuschen aufgewacht und habe mich sehr erschrocken. Ich lebe allein mit meiner Katze im Stadtzentrum, und dort allein zu sein, machte mich sehr nervös. Ich konnte mir nie vorstellen, dass so etwas wirklich passiert.
Ein Freund erklärte sich bereit, mich abzuholen und mit mir zu dem Haus eines Freundes zu fahren, 30 Kilometer südlich von Kiew in der Stadt Schytomyr. Ich schnappte mir meine Notfalltasche, die ich schon vor ein paar Tagen vorbereitet hatte – Dokumente, Geld, ein paar Kleidungsstücke. Um 10 Uhr verließ ich mit meiner Katze die Wohnung.
In der Stadt war Chaos. Überall standen die Menschen Schlange – vor den Supermärkten, Drogerien, Geldautomaten. Verrückter Verkehr auf den Straßen, die aus der Stadt führen. Für die Fahrt, die sonst 40 Minuten dauert, brauchten wir fast fünf Stunden. Ich hörte Militärflugzeuge über meinem Kopf, Explosionen und Beschuss. Alles, woran ich denken konnte, war: Werden wir jetzt sterben oder nicht?
Wir erreichten das Haus unseres Freundes kurz nach 15 Uhr. Dort leben vier Personen, zwei Hunde und eine Katze. Ob wir hier sicher sind? Ich glaube nicht.
Wir hörten die ganze Zeit Granaten. Ich vermute, die Geräusche kamen von der nahe gelegenen Militärbasis Gostomel. Das Haus hat keinen Keller, also einigten wir uns darauf, die Nacht im Badezimmer zu verbringen, weil es kein Fenster hat.
Am Abend sprach ich mit dem moldauischen Fernsehen. Sie fragten mich, wie dieser Krieg meiner Meinung nach enden würde. Ich wurde wütend. Wie zum Teufel sollte ich das wissen? Ich bin nur eine gewöhnliche Zivilistin, die Angst hat, getötet zu werden.
Wir hatten keinen anderen Plan als den nächsten Morgen abzuwarten. Ich sehe absolut keinen Sinn darin, irgendwo innerhalb des Landes umzuziehen. Es gibt ohnehin keinen wirklich sicheren Ort. Wenn es mehr oder weniger ruhig ist, werden wir versuchen, nach Westen zu fahren und die Grenze zur Republik Moldau zu überqueren. Das Problem ist, dass wir nur ein Auto haben. Bei einem anderen sind auf dem Weg zwei Reifen geplatzt.
Tetjana S., 28, Kamerafrau aus Kiew
Mein Verlobter hat sich vor ein paar Tagen für die Territoriale Verteidigung (Anm. d. Red.: eine militärische Reservekomponente der ukrainischen Streitkräfte) gemeldet und sich am Donnerstagmorgen einer Gruppe angeschlossen. Ich bin mit meiner Katze zu Hause geblieben.
Die Ukrainer sind eben Ukrainer: In der Nähe der Stadt war Granatenbeschuss zu hören, aber sie tun so, als wäre nichts passiert. Sie gehen mit ihren Hunden spazieren, stehen an Bushaltestellen, rauchen und diskutieren über die aktuelle Lage. Einige Männer verkauften am Donnerstag bis zum Abend Obst und Blumen in der Nähe meines Hauses. Das Einzige, was anders ist, sind die Warteschlangen vor den Supermärkten und Drogerien.
Als um 22 Uhr die Ausgangssperre begann, stellte die U-Bahn ihren Betrieb ein und verwandelte sich in einen Schutzraum. Die Menschen wurden aufgefordert, sich im Falle eines Bombenangriffs dort zu verstecken. Ich ging zur nächstgelegenen Station in Obolon, viele Menschen waren bereits dort. Sie kamen mit ihren Kindern und älteren Angehörigen, Haustieren, Decken und Lebensmitteln. Die Sitze in den Zügen wurden als Betten benutzt, aber die meisten Menschen saßen oder lagen auf dem Boden. Ich hatte einen Rucksack mit den wichtigsten Dingen dabei und die Katze, die die ganze Nacht zitterte. Ich konnte auch nicht einschlafen, es war eine sehr schwierige Nacht. Ich war allein und machte mir Sorgen um meinen Verlobten und meine Eltern in Charkiw.
In der U-Bahn hört man nichts – keinen Beschuss, keinen Alarm. Am frühen Freitagmorgen gab es ein paar Explosionen, aber das erfuhren wir aus den Nachrichten. Als ich die U-Bahn verließ, fühlte es sich an, als hätte sich draußen nichts verändert.
Meinen Verlobten kann ich immer noch nicht erreichen. Ich bin zu Freunden gegangen und habe sie gebeten, sich um die Katze zu kümmern, damit auch ich mich einer Territorialverteidigungsgruppe anschließen kann. Als ich wieder nach Hause kam, fuhren russische Panzer durch meine Straße.
Lesia Gaidai, 48, Beamtin, aus Tschernihiw
Es begann früh am Morgen. Beschuss oder Bombardierung, ich weiß nicht, was es war. Mein Mann sagt, es sei weit weg, also versuchen wir, ruhig zu bleiben. Wir bleiben zu Hause, denn wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen. Selbst wenn wir könnten, ist es gefährlicher, irgendwohin zu gehen, als zu bleiben. Wir haben beschlossen, zu warten.
Niemand ist heute zur Arbeit gegangen, fast alles ist geschlossen. Die Banken sind geschlossen, die Wechselstuben sind geschlossen, ich konnte kein Geld am Geldautomaten abheben. Alles Bargeld, das ich jetzt habe, sind etwa 6 Tausend Grivnas (weniger als 200 Euro). Vor kurzem haben wir eine neue Wohnung gekauft und eine große Renovierung begonnen – alle Ersparnisse wurden dort investiert. Ich wünschte, sie wären es nicht.
Ich habe einige Lebensmittel gekauft – Wurst, Brot, Konserven, Wasser. Das sollte zumindest für ein paar Tage reichen. Ich habe zwei Taschen gepackt, falls wir abreisen müssen. Mein Mann hat den Keller in der Nähe unseres Hauses überprüft. Unsere Nachbarin – eine alte Frau, die allein lebt – nahm sich einen Stuhl und setzte sich an die Treppe. Sie hat solche Angst, allein in der Wohnung zu sein.
Der Beschuss ist hier und da zu hören. In der Nähe der Stadt, aber noch nicht in der Stadt. Von Zeit zu Zeit gibt es ein Notsignal – das bedeutet, dass wir alle in den Keller gehen. Wir waren zweimal dort, sind aber meistens in unserer Wohnung geblieben. So haben wir die Nacht verbracht, mit dem Lokalradio im Ohr.
Natürlich haben wir überlegt, ob wir gehen sollen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das möglich ist. Wir leben in der Nähe der russisch-weißrussischen Grenze, weit weg von der Grenze zur EU. Es ist die Stadt am linken Ufer des Flusses Desna – wenn die Brücke zerstört oder blockiert ist, gibt es keinen Ausweg. Mein Mann besteht darauf, dass wir bleiben. Mein Vater, der 75 Jahre alt ist, auch. Ich kann nur hoffen, dass es bald vorbei ist.
Roman O., 46, Projektmanager und Aktivist
Anfang der Woche erhielt ich eine Nachricht von meinem Freund, der ein Mitglied des ukrainischen Parlaments ist. Er schrieb: Kiew wird bombardiert werden, bringt eure Familien an sichere Orte. Ich habe zwei Jungen im Alter von 8 und 15 Jahren, ich natürlich besorgt um sie. Ich fragte meine Frau, ob wir es dieses Mal ernst nehmen sollten, aber sie blieb skeptisch.
Jedenfalls beschloss ich, dass es für die Kinder sicherer wäre, woanders zu sein. Am Mittwoch wartete ich bis zum Ende des Schulunterrichts und fuhr sie zu meiner Mutter in der Region Tscherkassy, im zentralen Teil der Ukraine. Mein älterer Sohn war sehr wütend auf mich, weil ich ihn von seinen Freunden und seiner Freundin weggebracht hatte. Wir kamen spät am Abend an, aßen mit der Familie zu Abend und gingen schlafen. Um 5 Uhr morgens wurde ich von einem Anruf geweckt – Russland war in die Ukraine einmarschiert.
Als es los ging, war meine Frau allein zu Hause. Sie ging sofort zu ihren Kollegen. Die Nacht verbrachte sie dann bei ihren Verwandten in Kiew. Das war nicht leicht für uns, und ich wünschte, sie wäre von Anfang an mit uns gegangen. Wir vereinbarten, dass sie und ihre Verwandten Kiew gemeinsam verlassen und ich sie irgendwo unterwegs treffe. Sie haben Stunden aus der Stadt gebraucht, auch ich kam nicht so schnell voran. Die ganze Straße war voll von ukrainischen Soldaten und Zivilisten, die Befestigungsanlagen bauten, um die russischen Truppen aufzuhalten.
Ironischerweise fuhren die Verwandten meiner Frau zu ihrer 84-jährigen Großmutter. Sie erinnert sich oft an die Nazis zurück und erzählt dann von der Besatzung. Sie sagt immer, ihr Haus sei das schönste im ganzen Dorf gewesen, deshalb hätten die Nazis es damals an sich gerissen.
Ich werde bald wieder nach Kiew zurückkehren, um mich der Territorialen Verteidigung anzuschließen. Ich kann nicht einfach zusehen und nichts tun, wenn in meinem Land so schreckliche Dinge passieren.
Protokolle: Kateryna Kovalenko; a us dem Englischen von Nora Belghaus
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