Autor über den „Film Noir“: „Ein Spiegel der Krise“
Der Bremer Christian Keßler hat ein Buch über den „Film Noir“ geschrieben – ein Kino der Krise, in dem immer alles schief läuft.
taz: Herr Keßler, es gibt wahrscheinlich ähnlich viele Definitionen von „Film Noir“ wie es Noir-Filme gibt. Was macht für Sie so einen aus?
Christian Keßler: Film Noir ist kein Genre, sondern eher eine bestimmte Tradition, Geschichten zu erzählen. Anfang der 1940er-Jahre entwickelte sich im Kino eine Manier, Kriminalstorys zu erzählen, die sich völlig unterschied von der Zeit davor.
Inwiefern?
Die Helden waren noch bis in die 30er unfehlbar. Menschen, die vorwiegend intellektuell funktionierten und alles zusammenbastelten, bis sie die Wahrheit hatten, die dann auch unsere Wahrheit war. Ab den 40er-Jahren waren die Helden dann eher in Gänsefüßchen gesetzt. Das waren ganz normale Menschen, sie sahen suboptimal aus, unrasiert, auch mal kleingewachsen wie zum Beispiel Humphrey Bogart oder James Cagney. Und sie pflegten einen unkoscheren Lebenswandel. In einem Fall war der Held sozusagen eine lebende Leiche: Der Protagonist in „D.O.A.“ weiß, dass er bald sterben muss und hat noch 24 Stunden Zeit, seinen Mörder zu finden.
Auch die Filme sahen nun anders aus.
Formal wichen diese Filme von der Hollywood-Maxime ab, dass für gutes Geld auch alles gut auszuleuchten sei. Beleuchtung wurde künstlerisch eingesetzt, die Schauspieler befinden sich auf Lichtinseln, die von dunklen Zonen eingerahmt sind. Wie Schatten, die nach einem greifen. Der Begriff „Film Noir“ mendelte sich dann aber erst viel später, rückblickend heraus.
In Ihrem Buch besprechen Sie knapp 300 Filme.
Dazu kommen noch 400 weitere Internet-Rezensionen.
Sie haben also in einem Jahr Recherche 700 Filme gesehen?
Ja.
Ist das ein Anlass, die verbreiteten Vorstellungen vom klassischen Hollywood-Kino – heile Welt, immer ermutigend, Happy End – grundlegend zu korrigieren?
53, Filmjournalist, lebt in Bremen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Wurmparade auf dem Zombiehof. Vierzig Gründe, den Trashfilm zu lieben“ und „Gelb wie die Nacht: Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute“.
„Hollywood Blackout. Sternstunden des amerikanischen Noir-Kinos 1941–1961“ ist im Martin Schmitz Verlag erschienen (372 S., 35 Euro)
Grundsätzlich ja. Kino bildet in gewisser Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit nach. Ein dynamisches Gleichgewicht: Weil Kino eine kommerzielle Unternehmung ist, wird das hergestellt, von dem die Produzenten annehmen, dass besonders viele Menschen dafür Geld bezahlen. Und das Leinwandprodukt wirkt dann wieder zurück auf die Gesellschaft.
Es geht eigentlich alles schief, die Figuren werden fortlaufend für ihre Existenz bestraft. Warum waren diese Filme so beliebt?
Die amerikanischen Film Noirs sind nach der Weltwirtschaftskrise, der Großen Depression, entstanden, als es ziemlich vielen Leuten ziemlich dreckig ging. Das spiegelt sich in den Figuren. Die Alternativwelten, die Hollywood vorher angeboten hatte, waren angesichts des Alltags – viele Männer waren im Krieg, Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise – schlicht nicht mehr zu glauben.
Gab es damals Probleme mit der Zensur?
Es gab sowohl vorauseilende Zensur der Filmemacher wie auch behördliche Eingriffe. Oder einen Fall wie „Nightmare Alley“ von 1947, davon lief ja gerade das Remake von Guillermo del Toro in den Kinos: Produzent Darryl F. Zanuck, der die Fox-Studios zu einer familienfreundlichen Firma umbauen wollte, ließ ein hoffnungsvolles Ende dran tackern, das in der Romanvorlage nicht zu finden ist.
Typisch?
Fast alle Romane und Theaterstücke, auf denen Film Noirs basieren, wurden entweder in kleinen Dingen oder ganz integral umgeformt. Ich habe vor Kurzem „Repeat Performance“ gesehen, da ist eine wichtige Figur in der literarischen Vorlage ein Transvestit – und in der Hollywood-Fassung ein milde exzentrischer Künstler, ein Bohemien.
Was wäre ein Beispiel für einen Film, der die damaligen Bestimmungen maximal ausgereizt hat?
Ein Wort wie „Vergewaltigung“ durfte zum Beispiel nicht gesagt, musste dezent umschifft werden. Eine Regisseurin wie Ida Lupino hat das geschickt gelöst: „Outrage“ ist ein Film über Vergewaltigung, in dem das Wort nicht einmal fällt.
Sie beschreiben den Film Noir als eine Art Kino der Krise. So eine haben wir derzeit wieder. Ist es da Zufall, dass Sie sich gerade jetzt intensiv mit diesen Filmen befassen?
Das Noir-Kino hat mich seit jeher gefesselt. Da ich ohnehin alte und grenzüberschreitende Filme sehr mag, war das eine natürliche Spielwiese für mich. Dass meine Arbeit an dem Buch zum selben Zeitpunkt wie die Coronakrise begann, war reiner Zufall. Die Arbeit hat mir aber massiv dabei geholfen, über diese Zeit, die ja noch nicht zu Ende ist, hinwegzukommen. Das war schon ein Segen – aber keine bewusst gefasste Idee.
Warum ist der größte Teil der Filme, die Sie in „Hollywood Blackout“ erwähnen, heute eher vergessen?
Das hängt vom jeweiligen Publikum ab. Cineasten wissen natürlich, wo Moses wohnt. Da werden viele dieser Filme gekannt und geliebt. Anders sieht es beim normalen Kinogänger aus, wenn er sich nicht für das Kino als Kunstform interessiert. Da ist oft schon Schwarz-Weiß ein Ausschlusskriterium – das sind dann alte Pantoffeln, die keiner will. Mein Wunsch ist, dass ich mit dem Buch Anregungen geben kann und Hinweise darauf, dass in alten Filmen nicht alles nur „Flipper“ und „Daktari“ war, sondern dass da ganz viel aufregende Kunst lauert.
Welcher Film Noir empfiehlt sich zum Einstieg in diese Welt?
Zum Beispiel mit „Laura“ von Otto Preminger. Einer der schönsten Hollywood-Filme – zum Thema Nekrophilie. Ein Ermittler, der sich in eine Leiche verliebt, die von einem schönen Ölgemälde vertreten wird, und der dann mit besagter Leiche eine Überraschung erlebt. Das ist ein wirklich wunderschöner, toll erzählter, geistreicher Film, der riskantes Terrain beackert.
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