Die Wahrheit: Die Fernvermehrung
Die Fernbedienung verschwindet und beendet abrupt den Fernsehabend. Gefunden wird sie im üblichen Versteck – nicht allein.
A us dem Umfeld der Kriminalität hört man immer wieder von den Ängsten und bleibenden Schäden, die Menschen ertragen müssen, in deren Wohnung eingebrochen wurde. Immerhin kann dabei ein konkretes böses Wesen als Täter rekonstruiert werden. Es gibt aber auch den Fall der ursachenlosen Vorgänge, die Betroffene in einem gespenstischeren Sinne verwirrt zurücklassen. Dazu zähle nun auch ich, und alle drei unerklärlichen Phänomene zeigten sich an einem Tag.
Schon am Morgen standen die Türen des Flurkleiderschranks weit offen. Weder hatte sie jemand aufgemacht, noch konnte jemand in der Wohnung gewesen sein. Nun gut, hölzerne Türen können schon mal aufgrund von Materialspannungen aufspringen. Aber schon die nächsten Minuten zeigten ein noch schrägeres Bild der Wirklichkeit.
Ich begann nämlich erneut nach der am Vorabend verschwundenen Fernbedienung zu suchen, das Verschwinden hatte zum abrupten Ende des Fernsehabends geführt. Schnell fand sie sich an ihrem beliebtesten Versteck wieder: in einer Sofaritze – genau dort, wo ich hunderte Male nachgeschaut hatte. Der überraschende Fund wäre zu verkraften gewesen, wenn, ja wenn nicht eine zweite, baugleich identische Fernbedienung in einer anderen Sofaritze steckte. Sie schienen sich völlig asexuell vermehrt zu haben.
Schon in den siebziger Jahren hatte der legendäre Philosoph Eduard „Ede“ Meyer in seinen Göttinger Vorlesungen immer wieder eine Geschichte als Beispiel für die kategorische Trennung zwischen belebter und unbelebter Materie erzählt: „Sie können ein Damen- und ein Herrenfahrrad noch so lang in einem dunklen Keller einsperren – und Sie bekommen dennoch kein Kinderfahrrad!“ Und das alles galt bereits seit Aristoteles, wenn nicht noch sehr viel länger.
Ich rief den Freund an, von dem ich den Fernseher vor einiger Zeit secondhand erworben hatte, und fragte ihn nach der exakten Anzahl der Fernbedienungen, die er mir vermacht hatte. Er konnte sich leider nicht mehr genau erinnern, verwies mich aber auf die „Kilimanjaro Expedition“ von Monty Python, in der John Cleese unter heftiger Diplopie leidet und nur noch Doppelbilder sieht.
Schließlich kam die Post und mit ihr die monatliche Mobilfunkrechnung. Ich habe zwar zwei Handys, telefoniere aber fast ausschließlich nur mit dem einem, während das andere meist mit ausgelutschtem Akku irgendwo vor sich hin dämmert. Diesmal war die Rechnung doppelt so hoch wie normal, und praktisch alles ging zulasten des stummen Handys. Es wurden Gespräche von fast hundert Euro mit einer unbekannten Sondernummer außerhalb der Flatrate aufgeführt. Aber ich hatte nie mit dem Teil telefoniert.
Vermutlich lag das Handy bereits seit Wochen mit einer Fernbedienung in irgendeiner Sofaritze. Was dann vor sich ging, weiß niemand. Die Spekulationen sind eröffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!