Kurdisch verwaltete Region in Syrien: Das Experiment
Vieles läuft im kurdisch verwalteten Nordosten Syriens besser als im restlichen Land. Nur: International gibt es kaum Unterstützung.
R oni Khalaf hängt noch schnell die weiße Wäsche ab. „Sonst wird sie grau“, sagt die 29-Jährige. Vor den Lehmmauern des traditionellen Hofhauses wirkt die junge Frau in dem langen gemusterten Kleid im ersten Moment fehl am Platz – Jacke und Kopftuch sind farblich aufeinander abgestimmt, die eckige Metallbrille verleiht ihr etwas Intellektuelles. Sie deutet auf ihr Gemüsebeet, den rankenden Wein, einen Olivenbaum. „Eigentlich könnte es hier so schön sein“, seufzt Khalaf, wäre da nicht der giftige Rauch, der von den primitiven Raffinerien der Umgebung herüberzieht.
Khalaf ist Rechtsanwältin und lebt mit ihrem Mann und ihrem zweijährigen Sohn in Grebre, einem Dorf im Nordosten Syriens. Unbefestigte Straßen führen zu ihrem flachen Lehmhaus, daneben pickende Hühner und streunende Katzen. Vergangenes Jahr hat sich Khalaf in der nahegelegenen Kleinstadt Terbespieh als Anwältin selbstständig gemacht, aber noch verdienen sie und ihr Mann nicht genug, um dort eine Wohnung zu mieten. So sitzt die Juristin in Grebre fest, einer ländlichen Idylle, in der die umliegenden Erdölverbrennungsöfen die Gesundheit ihrer Bewohner gefährden. Gemeinsam mit Aktivisten und Betroffenen kämpft Khalaf für mehr Umweltschutz – als Akademikerin hat ihr Wort Gewicht, erst recht auf dem Land. Jeder in Grebre kennt „Rechtsanwältin Roni“.
35 Kilometer weiter westlich kommt Jomart gerade aus der Stadt – ein paar Erledigungen, nichts weiter. Trotzdem hat der Aktivist das Gefühl, kaum atmen zu können. In seiner Heimat Qamishli, der mit 200.000 Einwohnern größten kurdisch geprägten Stadt in Syrien, stehen an jeder Ecke lärmende und stinkende Generatoren, in den Straßen staut sich der Verkehr. Die Autos fahren mit schmutzigem Diesel und stoßen schwarze Abgaswolken in die Luft. „Der Alltag ist extrem anstrengend“, sagt Jomart, der seinen echten Namen nicht nennen möchte. Er ist 40 Jahre alt, hat dunkle glatte Haare, weiche Gesichtszüge und eine ruhige Stimme – er ist niemand, der gerne dramatisiert. Statt sich aufzuregen, kommentiert Jomart die Probleme der Region lieber ironisch. Das schont die Nerven und hilft ihm, positiv zu denken.
Optimismus kann Jomart gut gebrauchen. Denn er hat beschlossen, in Qamishli zu bleiben, obwohl seine Eltern und Geschwister inzwischen alle in Europa leben. Als Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation (NGO) will Jomart dazu beitragen, dass die Region sich entwickelt. Das verbindet ihn mit Roni Khalaf, der Anwältin in Grebre, die ebenfalls an die Zukunft Nordostsyriens glaubt – oder es zumindest versucht. Ihre Familie ist noch komplett in Syrien, als älteste von fünf Geschwistern könne sie nicht einfach flüchten, sagt Khalaf. „Sollen wir nur uns selbst retten?“, fragt sie ohne Vorwurf in der Stimme. Wenn ihre Familie hier und sie allein in Europa sei, habe sie nichts gewonnen, meint die Anwältin. „Denn meine Gedanken und Sorgen bleiben hier.“
Was Roni Khalaf und Jomart eint, ist die Absicht, zu bleiben. Und das unterscheidet sie von den meisten Gleichaltrigen in Syrien, denn die denken vor allem ans Weggehen. Die Anwältin und der Aktivist fühlen sich verpflichtet, etwas für ihre Heimat zu tun, ohne sich mit dieser überhaupt identifizieren zu können. Denn sie leben in Nordostsyrien zwischen den Überresten eines verhassten Regimes und einem kurdischen Autonomieprojekt, das von der PKK inspiriert ist – in einer Region, die zwar angesichts der Not, Unterdrückung und Zerstörung im übrigen Syrien Hoffnung auf Stabilität weckt, von der aber keiner weiß, wie es mit ihr weitergehen wird.
Die Wiege der Menschheit liegt heute zwischen allen Fronten
Nach zehn Jahren Krieg ist Syrien in vier Machtbereiche zerfallen. Präsident Baschar al-Assad hat den größten Teil des Landes mithilfe Russlands und Irans zurückerobert; im Nordwesten steht die Provinz Idlib unter Kontrolle radikaler Islamisten. Die Türkei hat entlang der Grenze drei Protektorate errichtet, und im Nordosten – wo Roni Khalaf und Jomart leben – regiert die Autonome Verwaltung Nordostsyrien.
Der sicherste Weg dorthin führt über den Tigris. Man könnte auch über den Euphrat kommen, aber dann müsste man an Assads Geheimdiensten vorbei. Zwischen Euphrat und Tigris, den Lebensadern des historischen Zweistromlandes, befindet sich die Wiege der Menschheit heute zwischen allen Fronten. In Nordostsyrien läuft ein politisches und gesellschaftliches Experiment, das von Gegnern umzingelt ist. Im Norden die Türkei, im Osten der Nordirak mit seiner Autonomen Region Kurdistan und im Süden und Westen Assads Regime. Alle drei wollen die Autonome Verwaltung Nordostsyrien zum Scheitern bringen, die das Gebiet seit Jahren nicht nur verwaltet, sondern faktisch regiert – inklusive seiner fünf Millionen Einwohner und einer Million Binnenvertriebener.
Die Region ist von strategischem Interesse. Sie macht fast ein Drittel des syrischen Staatsgebietes aus und enthält das Erdöl, das Syrien für den Eigenbedarf braucht. An den fruchtbaren Ufern des Euphrat wird normalerweise der Weizen für die landesweite Brotversorgung angebaut. Die Gegend galt deshalb als „Kornkammer Syriens“, bevor jahrelange Dürren infolge des Klimawandels eintraten, der Krieg kam und weitere Staudämme in der Türkei den Euphrat zu einem schmalen Fluss machten und einen Großteil der Ernten vernichteten.
Am Tigris, der natürlichen Grenze zwischen Nordirak und Nordostsyrien, sieht es nicht besser aus. Der ehemals breite Strom führt nur noch wenig Wasser, die Fahrt im Kleinbus über eine schwimmende Brücke ist ungewöhnlich, aber nicht mehr spektakulär. Auf der syrischen Seite des Flusses sind ausländische Besucher willkommen – die Autonome Verwaltung braucht dringend Aufmerksamkeit. „Assads Syrien“ scheint hier weit weg, statt finsterer Geheimdienstmitarbeiter kontrollieren freundliche Asayesh die Einreisepapiere – die Polizeikräfte der Region können allerdings auch unfreundlich auftreten, etwa bei der Verfolgung von Oppositionellen.
Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst
Das Autonomieprojekt, das 2012 mit dem Rückzug des Assad-Regimes aus dem Nordosten begann, wird von der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) vorangetrieben, der syrischen Schwester der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). An Landstraßen, Kreisverkehren und auf öffentlichen Plätzen hängen immer wieder Plakate von PKK-Gründer Abdullah Öcalan.
Jomart, der Aktivist in Qamishli, hält das für unklug. Die PKK ist nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa und den USA als Terrororganisation gelistet. „Wer Öcalan und die PKK toll findet, kann sie bei sich zu Hause verehren“, meint Jomart. „Warum müssen sie Öcalan-Fotos in Behörden und an Ortseingängen aufhängen?“ Für viele potenzielle Verbündete der Kurden sei diese offen zur Schau gestellte Nähe zur PKK eine Provokation, sagt Jomart, und die Region brauche dringend ausländische Unterstützung.
Im Außenamt der Autonomen Verwaltung in Qamishli hängen keine Öcalan-Fotos, formal obsiegt hier die Diplomatie. Hausherr Abdelkarim Omar, der Beauftragte für äußere Angelegenheiten, empfängt Besucher in seinem geräumigen Büro. Omar, ein kleiner Mann mit Grübchen am Kinn, zeigt sich dennoch als überzeugter Anhänger des seit 22 Jahren in der Türkei inhaftierten Kurdenführers. „Wir haben keine direkten organisatorischen Verbindungen zur PKK“, betont er, aber Öcalan sei Symbol und Vorbild für alle Kurden. Die Autonome Verwaltung fühle sich seinen Ideen verpflichtet, und wenn eines Tages die Kurdenfrage im Nahen Osten gelöst sei, werde Öcalan sicher im Weißen Haus empfangen wie einst Nelson Mandela. „Der wurde vom Westen auch erst als Terrorist bezeichnet und später als Symbol des Befreiungskampfes in Südafrika gefeiert“, sagt Omar.
Theoretisch hat Öcalan die Kurdenfrage längst gelöst. Im Gefängnis entwarf er das Konzept des „demokratischen Konföderalismus“, das nicht länger einen eigenen kurdischen Nationalstaat anstrebt, sondern auf basisdemokratische Selbstverwaltung aller Bewohner einer Region setzt. Gleichberechtigte Mitsprache von unten statt Regieren von oben. Autonome kurdische Gebiete in der Türkei, in Syrien, Irak und Iran könnten sich dann zu einer Konföderation zusammenschließen, ohne bestehende Staatsgrenzen infrage zu stellen.
Die Logik eines Einparteienregimes
Die Idee passt gut zur Situation in Nordostsyrien und dient der Autonomen Verwaltung als Blaupause. Denn das Gebiet umfasst nicht nur die kurdischen Siedlungsgebiete in Afrin, Kobanê und Cizîr, die als Rojava – zu Deutsch Westkurdistan – bezeichnet werden, sondern auch überwiegend arabische Städte wie Manbidsch, Tabqa, Raqqa und Deir al-Sor. Außerdem leben hier noch andere ethnische und konfessionelle Gruppen – Assyrer, Chaldäer, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Jesiden. Sie alle sind in der Autonomen Verwaltung vertreten, auch in verantwortlichen Positionen. Mit Kurdisch, Arabisch und Syro-Aramäisch gibt es offiziell drei Amtssprachen, Führungsposten sind stets mit einer Frau und einem Mann besetzt.
In der Praxis stößt die linke Utopie jedoch an ihre Grenzen. Der Einfluss der PYD lähmt den Verwaltungsapparat, weil dieser auf allen Ebenen mit der Logik eines Einparteienregimes kämpft. Dadurch arbeitet er bürokratisch und ineffektiv, handelt oft autoritär und korrupt.
Das bekommen Aktivisten wie Jomart immer wieder zu spüren, auch wenn die Lage im Vergleich zu früher viel besser geworden sei, sagt er. Jomart arbeitet für die zivilgesellschaftliche Organisation PÊL – Civil Waves, deren Räume im Souterrain eines Wohnhauses in einer Seitenstraße von Qamishli liegen, das braun-grüne Schild über dem Eingang ist verblichen. PÊL zählt mit 40 Angestellten zu den größeren NGOs in Nordostsyrien, sie bekommt Entwicklungsgelder aus Europa, auch von der Bundesregierung. Neben humanitärer Arbeit in Krisenzeiten setzt sich PÊL für mehr politische Mitsprache der Jugend, eine Stärkung von Frauen und gesellschaftliche Aussöhnung ein. Diese Themen seien eigentlich im Sinne der Verwaltung, die selbst Geschlechtergerechtigkeit und den Dialog zwischen verschiedenen Ethnien und Konfessionen fördere, lobt Jomart. Das Problem sei jedoch das nach 50 Jahren Diktatur tief verwurzelte Misstrauen gegenüber nicht staatlichen Akteuren und mündigen Bürgern. „Auch konstruktive Kritik wird als Feindseligkeit oder Verrat wahrgenommen“, sagt er. Dabei gehe es nur darum, die Arbeit der Verwaltung zu verbessern und nicht, sie grundsätzlich infrage zu stellen.
Für jede Aktivität braucht PÊL eine Genehmigung, erscheint ein Thema zu heikel, wird diese nicht erteilt. Zwar könne man mit den zuständigen Behördenvertretern inzwischen reden und sie auch umstimmen, erzählt der Aktivist, aber die Arbeit als NGO bleibt mühsam. Immerhin riskiert Jomart mit dem, was er tut, nicht sein Leben. In den von Damaskus beherrschten Gebieten ist jedes unabhängige politische Engagement bis heute tabu. „Sollte das Regime zurückkehren, wäre das für die zivilgesellschaftliche Arbeit das Ende“, warnt er. Etwa 200 registrierte NGOs gebe es im Nordosten, ihre Mitarbeiter könnten dann nur noch Dokumente vernichten und fliehen, sagt Jomart.
Um die Checkpoints von Machthaber Assad macht der Aktivist einen Bogen. Das syrische Regime hat den Nordosten nie ganz verlassen, es kontrolliert bis heute einzelne Stadtviertel und Dörfer sowie den Flughafen von Qamishli. Davon profitiert die Autonome Verwaltung, denn sie wird von niemandem offiziell anerkannt und könnte folglich keinen Flughafen betreiben.
Über die Jahre haben sich daraus skurrile Parallelstrukturen entwickelt. Die Autos fahren mit verschiedenen Nummernschildern, einzelne Krankenhäuser und Schulen unterstehen dem Regime, die meisten der Autonomiebehörde. Um seinen Ausweis zu verlängern, muss man zu Assads Passamt, einen Führerschein bekommt man auch bei der Selbstverwaltung. Und Rechtsanwältinnen wie Roni Khalaf haben zwei Zulassungen – eine für die Gerichte des syrischen Regimes und eine für die der Autonomen Verwaltung.
Zum Glück seien die Gesetze fast identisch, sagt Khalaf in ihrem Hofhaus in Grebre und serviert Kaffee und Gebäck auf einem kleinen Plastiktisch. „Die Selbstverwaltung hat lediglich die Namen ausgetauscht.“ Wo beim Regime „Syrische Arabische Republik“ stehe, heiße es bei der Autonomen Verwaltung „Nordostsyrien“, erzählt Khalaf. Es gebe ein inoffizielles Abkommen zwischen den beiden, betont die Anwältin, ohne Absprachen würde das Nebeneinander nicht funktionieren.
Assad hat keinen Grund, Kompromisse zu machen
Die Verhandlungen zwischen dem Regime in Damaskus und der Autonomen Verwaltung Nordostsyrien beschränken sich allerdings seit Jahren auf praktische Fragen und Sicherheitsaspekte, eine grundlegende Einigung ist nicht in Sicht. Umso weniger, je gefestigter Assads Position erscheint. Der syrische Präsident hat keinen Grund, Kompromisse zu machen, da Russland und Iran ihn an der Macht halten und seine früheren Kritiker in der Region – darunter Saudi-Arabien, Katar, Irak, Ägypten und Jordanien – wieder den Kontakt nach Damaskus suchen.
„Russland ist leider nicht bereit, Druck auf das Regime auszuüben, um es zu einem ernsthaften Dialog über Dezentralisierung und Autonomie zu bewegen“, sagt Außenamtschef Abdelkarim Omar. Für Assad sei der Nordosten deshalb kein politisches Thema, sondern ein Sicherheitsproblem, um das sich seine Geheimdienste kümmern, kritisiert der Diplomat. Ohne eine Einigung mit Damaskus könne die Autonome Verwaltung aber nicht nach internationalem Recht anerkannt werden, erklärt Omar – und ohne Anerkennung keine direkte Unterstützung.
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Die Region bräuchte dringend Investitionen in die Infrastruktur – und in die Erdölverarbeitung, die Haupteinnahmequelle der Verwaltung. Dann könnten die primitiven Verbrennungsöfen, die im Umland von Grebre die Luft verseuchen, durch moderne Anlagen ersetzt werden, hofft Rechtsanwältin Khalaf. Denn obwohl das Erdöl im Nordosten liegt, gibt es dort keine industriellen Raffinerien.
Das syrische Regime transportierte den Rohstoff früher in Pipelines nach Homs und Baniyas, wo es weiterverarbeitet wurde. Jahrzehnte profitierten vom Erdölgeschäft Assads Günstlinge, die von der Küste in den Nordosten geschickt wurden. Dort bekamen sie lukrative Posten und staatliche Zuwendungen, während die örtliche, meist kurdische Bevölkerung, wenn überhaupt, als Hilfsarbeiter Anstellung fand.
Ab 2011 brach dieses System schrittweise zusammen. Das Regime überließ den Nordosten der PYD, um den Aufstand im Rest des Landes niederzuschlagen. Damals habe es an allem gefehlt, erinnert sich Roni Khalaf. „Wir mussten mit Flüssiggas kochen wie meine Großmutter, die Leute fällten Bäume zum Heizen, weil es keinen Diesel gab.“ Wer Geld hatte, investierte in große Metallfässer, die bis heute als Verbrennungsöfen dienen – darin wird das Rohöl erhitzt, um Gas, Benzin und Diesel zu gewinnen. „Aber der Gestank, die ungefilterten Giftstoffe und die Schäden für die Menschen hier haben niemanden interessiert“, sagt Khalaf.
Viele Atemwegserkrankungen
Ihr Sohn leide seit seiner Geburt an einem Rasselgeräusch beim Atmen, erzählt die junge Mutter, sie selbst habe Allergien bekommen, seitdem sie vor vier Jahren zu ihrem Mann nach Grebre zog. Laut Khalaf sind vor allem die älteren Dorfbewohner betroffen, die zunehmend an Atemwegserkrankungen, Sauerstoffmangel oder Krebs sterben. „Der Oma meines Mannes haben wir noch ein elektrisches Inhalationsgerät besorgt, aber es hat am Ende nichts genützt“, berichtet Khalaf.
Neben der Sorge um die Gesundheit ihrer Familie hat Roni Khalaf Zukunftsängste. Mit Schrecken erinnert sich die junge Frau an den Tag vor mehr als zwei Jahren, als gleichzeitig die Angriffe der Türkei und ihre Geburtswehen begannen. „Wir mussten ins Krankenhaus nach Qamishli, weil es hier kein Krankenhaus gibt. Aber wegen der Raketeneinschläge wurden die Straßen abgeriegelt und wir saßen fest“, erzählt Khalaf.
Im Oktober 2019 intervenierte die türkische Regierung zum dritten Mal im Norden Syriens – 2016 hatte sie bereits das Gebiet nördlich von Aleppo erobert, 2018 folgte Afrin. Präsident Erdoğan möchte eine kurdische Autonomie unter Führung der PYD verhindern, denn aus Sicht Ankaras sind PYD und PKK dieselbe Terrororganisation und eine Bedrohung für den türkischen Staat. Erdoğan möchte das Grenzgebiet mithilfe islamistischer Söldnertruppen – der Syrischen Nationalen Armee (SNA) – unter türkische Kontrolle stellen, auch um syrische Geflüchtete aus der Türkei dorthin zurückzuführen. Ein Umsiedlungsprojekt, das den Norden Syriens schon jetzt demografisch verändert – Kurden werden vertrieben, Araber angesiedelt.
Menschen verlieren ihre Existenzgrundlage
Viele Leute hätten durch die türkischen Militäroffensiven Land, Besitz und Ersparnisse verloren, sagt Anwältin Khalaf. Sie selbst schaffte es 2019 dank einer Waffenruhe noch rechtzeitig zur Geburt ins Krankenhaus. Aber die anhaltenden Drohungen der Türkei betrachtet sie als größte Gefahr für die Region. Dabei hätte die Kurdin genug Gründe, sich mehr vor dem IS zu fürchten. Ihre Familie lebte in Raqqa, als der IS die syrische Provinzhauptstadt 2014 zum Zentrum seines Kalifats machte. „Weil die Situation für junge Frauen gefährlich war, schickten mich meine Eltern zum Jurastudium nach Hassaka“, erzählt Khalaf. Die Eltern und ihre vier jüngeren Geschwister flüchteten später nach Qamishli.
Seit 2019 ist der IS geografisch geschlagen, aber nicht besiegt. Im Untergrund und in den beiden Camps al-Hol und Roj, in denen Zehntausende IS-Angehörige ausharren, formiert er sich neu. Trotzdem fühlt sich auch Aktivist Jomart von der Türkei mehr bedroht als von den Dschihadisten. „Gegen den IS werden wir immer internationale Hilfe bekommen“, sagt er, während sich mit der Türkei niemand anlegen wolle, schon gar nicht die Europäer. „Sie haben Angst, dass Erdoğan ihnen dann mehr Geflüchtete schickt“, sagt Jomart.
Der IS und die Türkei gefährden Nordostsyrien
Beide Gefahren – der IS und die Türkei – hingen miteinander zusammen, betont Außenamtschef Abdelkarim Omar. Zum einen, weil Erdoğan seit Jahren radikale Islamisten in Nordsyrien unterstütze und viele ehemalige IS-Anhänger inzwischen bei der Dschihadistentruppe SNA kämpften, sagt der Diplomat. Zum anderen, weil die Türkei alles dafür tue, um Nordostsyrien zu destabilisieren und dadurch den Nährboden für weiteren Terrorismus bereite.
Umso wichtiger wäre eine Entwicklung der Region, doch die scheitere an dem Gefühl der Ungewissheit, das die Menschen lähme, sagt Anwältin Khalaf. „Wer etwas Geld gespart hat, zögert, es zu investieren, aus Angst, alles zu verlieren“, erklärt sie. Statt sich in Nordostsyrien eine Zukunft aufzubauen, legten die Leute ihre Ersparnisse lieber unter die Matratze, um damit beim nächsten Angriff in Richtung Europa zu fliehen, sagt die Juristin.
Nicht so Jomart. Er sucht seit Monaten eine Eigentumswohnung in Qamishli – zentral, aber weit genug von der Grenze zur Türkei entfernt. Immerhin haben die Amerikaner 170 Millionen Dollar zur Stabilisierung der Region zugesagt. Ein gutes Zeichen, meint der Aktivist. Auch Roni Khalaf wird bleiben. Und lächelt müde. Hat Deutschland jetzt nicht eine grüne Außenministerin, die von Menschenrechten, Klimagerechtigkeit und Umweltschutz spricht? Das findet die Anwältin ermutigend.
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