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Mit je einem Bein in beiden Welten

Heute vor 60 Jahren rollte der erste Sonderzug mit italienischen Gastarbeitern in Wolfsburg ein. Das soll gefeiert werden. Aber bevor dabei mal wieder alle so tun, als hätten wir schon immer harmonisch gemeinsam Pizza gegessen: Das stimmt so nicht. Ein Einwurf

Von Nadine Conti

Es wird eine coronabedingt kleine Runde, die sich da heute Nachmittag versammelt. Vertreter von Stadt, VW und IG Metall werden am Denkmal „L’emigrante“ von Quinto Provenziani vor dem Wolfsburger Bahnhof ein kleine Feierstunde abhalten. Und daran erinnern, wie wichtig und prägend die Italiener für die Stadt geworden sind. Vor genau 60 Jahren rollte der erste Sonderzug mit Gastarbeitern hier ein.

An diesem Bahnhof muss auch mein späterer Schwiegervater 1971 angekommen sein. 1999, 28 Jahre später, landete die Hochzeitseinladung von gleich zweien seiner Söhne in einer Vitrine des Stadtmuseums. Ich hatte die damalige Leiterin kennengelernt und sie fand das so hübsch: Die zweisprachige Einladung zu einer Doppelhochzeit. Zwei italienische Brüder, die jeweils eine deutsche Frau heirateten. Quasi ein Paradebeispiel für Integration.

Als das gelten sie ja mittlerweile fast alle, die Italiener in Deutschland: Als vorbildlich integriert, was auch immer das heißen mag und überhaupt als Lieblingsausländer, Lieblingsessenslieferanten, Lieblingsmodedesigner, so wie ihr Herkunftsland ja schließlich auch unser Lieblingsurlaubsland ist.

Mir scheint es wichtig, daran zu erinnern, dass das bei Weitem nicht immer so war. Der Weg dahin war weit und tat oft weh. Es ist natürlich eine Anmaßung, das ausgerechnet ich das schreibe, weil ich ja eigentlich bloß eine Kartoffel bin, die eben zwanzig Jahre lang das Privileg hatte, angeheirateter Teil eines wunderbaren und anstrengenden sizilianischen Clans zu sein.

Es ist nur so, dass viele Italiener einfach zu höflich sind, um diese Dinge zum Ausdruck zu bringen. Sie haben vieles weggesteckt und weggelächelt, weil man vor allem als Süditaliener ein Stück weit darauf trainiert ist, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und nicht überall Gutes zu erwarten. Außerdem kann man sich jetzt ja damit trösten, dass es doch einigermaßen gut ausgegangen ist. Danach sah es aber lange nicht aus.

Mein späterer Schwiegervater hatte insofern Glück, als dass er wohl schon in das Italiener-Ghetto, die neue Hochhaussiedlung in Käsdorf, kam. In den Jahren davor hatte man die allein reisenden jungen Männer noch in das sogenannte Italienerdorf am Stadtrand gepfercht. Das waren Holzbaracken mit Vierbettzimmern, Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftswaschraum, eingezäunt und vom Werkschutz bewacht.

Der damalige VW-Vorstand Heinrich Nordhoff musste immer wieder anmahnen, doch bitte schön nicht vom Lager zu sprechen, das wecke so ungute Erinnerungen. Aber natürlich war es genau das. Was sich übrigens auch dem Umstand entnehmen lässt, dass man mit Ludwig Vollmann einen „Lagerführer“ einsetzte, der seine Erfahrungen im sogenannten Gemeinschaftslager in der Nazi-Zeit gesammelt hatte.

Es gab in dieser Zeit auch immer mal wieder Diskussionen und Geraune um Ausgangssperren und Lokalverbote – man hatte in Wolfsburg (und anderswo) Angst vor den glutäugigen Fremden, die hinter den deutschen Frauen her waren. Auch das ist eine Diskussion, die immer wiederkehrt.

Von den ersten Italienern hielten es viele unter diesen Bedingungen nicht lange aus, sie bekamen auch bloß Jahresverträge bei VW, die Fluktuation war riesig in den Anfangsjahren, wie die Historikerin Anne von Oswald festgehalten hat. Aber manche bissen sich eben auch durch und zogen andere nach.

Auf diesem Weg gelangte schließlich auch mein Schwiegervater hierher, weil jemand was erzählte, weil man jemanden kannte, weil sich die wachsende Kinderschar (dreizehn!) auf Sizilien nicht mehr anders versorgen ließ – so ganz klar ist die Familienüberlieferung da nicht, zumal auch er mehrfach hin- und herwanderte.

Es ist – so viel darf ich sagen, ohne total indiskret zu sein – nicht immer alles so drollig und lustig wie in Jan Weilers „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ in dieser Familie und auch nicht ganz so pittoresk und episch wie in Fatih Akins Film „Solino“. Das Schicksal hat ihnen ein paar üble Knüppel aus Krankheiten, Todesfällen und Zerwürfnissen zwischen die Beine geworfen.

Die italienischen Parallelgesellschaften gruppierten sich damals natürlich nicht um Moscheen, sondern vor allem um die Missioni Cattoliche und Gewerkschaftsbüros – wo man Leute traf, die einem beim Eingewöhnen halfen und mit dem elenden Papierkram, wo man Karten spielen konnte und ordentlichen Kaffee trinken, und sich gegenseitig erzählen, wie schlimm hier in Deutschland eigentlich alles (außer der Bezahlung) ist: das Wetter, das Essen, die Leute.

Sechzig Jahre später gibt es einen beachtlichen Anteil der damals nach Deutschland verschleppten Kinder, die es geschafft haben – jedenfalls am üblichen deutschen Maßstab gemessen: ordentliche Jobs, Häuschen im Grünen, Familie – manche sind sogar Mitglieder in Vereinen.

VW-Vorstand Nordhoff musste immer wieder anmahnen, doch bitte schön nicht vom Lager zu sprechen

Mittlerweile kann man ja hier auch ganz gut leben: Man hat nicht nur diesen Deutschen beigebracht, dass Pizza und Pasta durchaus eine ordentliche Mahlzeit sind (mein Großvater hatte daran noch seine Zweifel), es gibt auch brauchbares Olivenöl, Passata, Origano, italienischen Käse, Aufschnitt und Kaffee in jedem Supermarkt.

Sie erinnern sich aber alle noch an die Zeiten, in denen man mit leeren Koffern in den Sommerurlaub fuhr, um voll bepackt zurückzukommen. Am besten hatten es die, die einen Job im Werk hatten – VW stellte eine Zeit lang Sonderzüge, die in den Werksferien Richtung Süditalien fuhren. Da konnte man noch den letzten Winkel mit Kartons und Kanistern vollstopfen, weil man auf der anderthalbtägigen Fahrt nicht dreimal umsteigen musste.

Es ist vieles einfacher geworden. Die Entfernungen sind geschrumpft. Es scheint heute einfacher zu sein, mit je einem Bein in beiden Welten zu leben. Doch ein Stück Zerrissenheit bleibt. Sie ist auch in der mittlerweile dritten Generation noch spürbar.

Wenn man lange genug zuhört und vorsichtig bohrt, kommen sie früher oder später doch zum Vorschein, die alten Verletzungen. Die Kränkungen, das Misstrauen, das Desinteresse, dass ihnen entgegenschlug. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der selbst die cleversten Kinder im deutschen Schulsystem aussortiert wurden, wirkt bis heute nach. Es hat lange gedauert, bis man die ersten Bürojobs und höhere Schulabschlüsse in der Familie verzeichnen konnte.

Daran ändert auch das Vorzeigeprojekt der deutsch-italienischen Schule in Wolfsburg nicht viel: Die war nicht für alle erreichbar. Noch immer stellt das italienische Außenministerium einen Etat für Nachhilfe, der über Schulbetreuungskomitees in verschiedenen deutschen Städten an italienische Schüler und Schülerinnen verteilt wird.

Von den zwei Ehen hat auch nur eine gehalten. Meine war es nicht. Aber diese Form der Desintegration hatte ganz sicher keine kulturellen Gründe.

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