Auszeichnung für Berliner Verlag: Mutig und wachsam

Der Verlag Secession hat den Großen Berliner Verlagspreis gewonnen. Hier erscheinen edle Bücher, die sich einmischen.

Christian Ruzicska steht vor einem Tor. An der linken Seite wächst Efeu.

Manchmal seien die besten Funde zufällig: Verleger Christian Ruzicska Foto: Dagmar Morath

Der weltberühmte Typograf und Informationsdesigner Erik Spiekermann steht in seiner Buchdruckwerkstatt p98a in einem Hinterhof der Potsdamer Straße in Berlin-Tiergarten an einer alten Druckmaschine und lässt sich von einem Mitarbeiter den Stand der Restaurierung erklären. Wer Dinge gern in die Hand nimmt, ist in dieser Werkstatt am richtigen Ort. Zahlreiche historische Druckmaschinen stehen da herum, umgeben von Druckerwerkzeug wie Schließzeug, Setzschiffen und unzähligen Schriften aus Holz und Blei.

Es ist ein guter Ort, Bekanntschaft mit dem Berliner Verlag Secession zu schließen, denn Spiekermann hat viele der Bücher in dessen Programm gestaltet. Es ist auch deshalb ein guter Ort, weil sich die Bücher dieses Verlags, der erst kürzlich den mit 35.000 Euro dotierten Großen Verlagspreis der Berliner Senatsverwaltungen für Kultur und Europa sowie Wirtschaft, Energie und Betriebe gewonnen hat, so gut anfassen lassen.

Ein paar Minuten später sitzen Erik Spiekermann und der Verleger Christian Ruzicska in einem Büro der Buchdruckwerkstatt und sollen von den Büchern sprechen, die sie gemeinsam machen. Der Berliner Winterhimmel hinterm Fenster ist ein graues Blechdach. Doch wenn Spiekermann und Ruzicska anfangen, könnte draußen ebenso gut ein lauer Sommerabend oder ein stürmischer Herbstmorgen sein.

„Am Buch selbst hat sich im letzten Jahrhundert nicht mehr viel verändert“, sagt Spiekermann und grinst. Bücher, sagt er, wurden nicht einfach erfunden, sondern den Menschen auf den Leib geschneidert. „Ich bin davon überzeugt, dass auf dieser Welt schon alle Geschichten erzählt wurden“, fügt Ruzicska an und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Es ist die Stimme, die interessant ist

Schon im zweiten Satz, den die beiden sagen, um den Verlag Secession zu erklären, sind sie auf Betriebstemperatur. „Bei diesen Büchern darf es trotzdem knirschen, wenn die Erzählung es zulässt“, freut sich Spiekermann – und berichtet von den spröden Pausen, die man zum Beispiel zwischen Kapiteln setzen kann, und vom farbigen Vorsatzbogen, der immer den Buchdeckel und Papierblock verbindet, der aber bei Secession links und rechts in eine Extraklappe mündet.

„Die Geschichten können noch so oft erzählt worden sein“, fällt Ruzicska mit lautem Lachen und wilden Handbewegungen ein. „Wenn die Stimme neu ist, will ich ihr folgen.“ Kurz denkt er nach, dann Stakkato: „Wie ist der Rhythmus, wie klingt der Text, wo sind Irritationen.“ Und dann holt er weit aus, ziemlich weit sogar.

Als Christian Ruzicska im Jahr 2009 den Secession Verlag gründete, war er schon kein unbeschriebenes Blatt in der Verlagsszene mehr. Zusammen mit Michael Zöllner hatte er 1998 den Tropen Verlag gegründet, damals war er gerade mal Ende 20. Der Verlag galt als einer der aufregendsten Kleinverlage, unter anderen machte er Jonathan Lethem in Deutschland bekannt, einen der interessantesten US-amerikanischen Autoren seiner Generation. Schon auf den Covern der Bücher von Tropen war zu erkennen, dass hier leicht größenwahnsinnige junge Leute angetreten waren, mindestens das Establishment aus den Angeln zu heben: Tags statt Buchstaben, die ISBN-Nummern direkt neben den Autorennamen.

Der Verlag hat sich verändert

Doch dann verkaufte Michael Zöllner Tropen überraschend an Klett-Cotta, Ruzicska musste sich neu orientieren. Irgendwann fiel ihm ein Manuskript eines Studienfreundes in die Hände, des Autors Steven Uhly, das ihn, wie er bis heute sagt, „einfach ergriff“. Zusammen mit Susanne Schenzle, einer Vertriebsleiterin beim wenig später gekenterten Ammann Verlag, gründete er in der Schweiz Secession. Uhly blieb dem Verlag wie die meisten Autoren, die einmal dort verlegt werden, treu.

Aber Secession hat sich verändert. Inzwischen ist der Verlag in Berlin ansässig. Susanne Schenzle hat Secession verlassen, Joachim von Zepelin, der ihr 2009 folgte, vor Kurzem ebenso. Und trotzdem geht es dem Verlag gut. „Ich lebe bescheiden, aber ich lebe von meiner Arbeit“, sagt Ruzicska. Durch Corona gab es zu wenige Veranstaltungen, zu wenige direkte Begegnungen, das schon. Ruzicska freut sich dennoch ungebrochen auf das kommende Frühjahrsprogramm.

Aber was ist das eigentlich für ein Verlag? Auf den ersten Blick wirken die Bücher, die hier verlegt werden, fast bieder. Sie alle erscheinen in einem ähnlichen Format, wirken erst mal hauptsächlich edel. Hinzu kommt der altmodische Name, der an die Wiener Secession erinnert, den Jugendstil also. Und eine Buchreihe, die sich „Handliche Bibliothek der Romantik“ nennt und den Zugang dieser Epoche zu Themen wie „Gespenster“ oder „Tiere“ untersucht, gibt es auch noch. Ist Secession ein Verlag für Oberstudienräte?

„Man muss nicht gebildet sein, um ein guter Leser sein zu können“, findet Christian Ruzicska, verweist auch auf die moderaten Preise seiner Bücher, die meist zwischen 18 und 25 Euro liegen, und lacht wieder.

Keine Lust auf Touchscreens

Der Verleger berichtet begeistert, dass er oft Bücher an junge Leute verschenke, die den Stand von Secession bei Buchmessen besuchen und sagen, sie hätten keine Lust mehr auf E-Books.

Christian Ruzicska Foto: Foto: Dagmar Morath

Ruzicska ist ein Mann, der sichtbar in den achtziger Jahren ohne digitale Endgeräte sozialisiert wurde, der sich aber auch für jene interessiert, die heute jung sind. „Ich habe das Gefühl, sie ­leiden an Vereinsamung und Erfahrungsarmut. Viele, die ich gesprochen habe, wissen nicht wirklich, wohin mit sich.“

Wie für viele von Ruzicskas Kol­le­g*in­nen derzeit, darunter die Berliner Verleger von Guggolz, Matthes & Seitz und der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, ist für ihn das Objekt Buch kein bürgerliches Statussymbol mehr, sondern eine Ansage in einer Zeit, wo sich Informationsbeschaffung fast nur noch auf Touchscreens abspielt. Das gilt besonders, wenn im Verlag junge Au­to­r*in­nen erscheinen, deren Texte wehtun, die eine Herausforderung sind, manchmal sogar eine Zumutung – und denen man trotzdem nicht auf Twitter folgen soll, sondern ohne Unterbrechung durchs aktuelle Wetter oder andere Topmeldungen, ein ganzes, dickes Buch lang.

„Welche Erzählung braucht eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt? Wo gehen wir hin?“ Das sind die Fragen, die Ruzicska interessieren.

Dystopische Bücher

Es sind auch die Fragen, die in jedem Programm von Secession mitschwingen. Auch im letzten, in dem vom Herbst 2021, dem 23. des Verlags. Da tauchen gleich drei dystopische Bücher bei Secession auf, Romane, die sich einmischen, künstlerisch mutig, politisch wachsam. Der deutsche Autor Björn Kern legt seinen bislang experimentellsten Roman vor, eine Art Gothic Novel über die Suche eines Sohns nach seinem Vater in einer fiktiven, dem Untergang geweihten Landschaft Ostdeutschlands. „Ich bin von diesem Manuskript nicht mehr weggekommen“, berichtet Ruzicska.

Der belgische Autor Antoine Wauters steuert eine Parabel über ein Zwillingspaar bei, das sich aus einem surreal anmutenden System von Ausbeutung, Korruption und Gewalt befreit. „Einfach top“, stellt Ruzicska fest.

Und die kanadische Autorin Karoline Georges gibt einen Roman über eine junge Frau dazu, deren Jagd nach körperlicher Perfektion schließlich im Virtuellen landet. „Ein Spitzentitel für unsere Zeit“, so Ruzicska.

Das Gespräch mit Ruzicska dauert inzwischen schon eine Stunde, Erik Spiekermann ist längst gegangen, um wieder ein bisschen zu arbeiten, draußen verschwindet der Blechdachhimmel, weil es dunkel wird. Längst ist sicher, dass Ruzicska ein Literaturverrückter ist, ein Getriebener, der sich gern in Rage redet, wenn er von seinen Büchern spricht. Der schlecht zusammenfassen kann. Und der vom Hundertsten ins Tausendste gerät, wenn er erklären möchte, warum ein Buch unbedingt in die Welt musste.

Die besten Funde sind die zufälligen

Wie kommt er auf die Bücher, die er verlegt? Natürlich, sagt er, gibt es ein verlässliches Netzwerk aus guten Kol­le­g*in­nen und Übersetzer*innen, die ihm viel zuflüstern. Manchmal aber, räumt er ein, sind die besten Funde die zufälligen. Das sei kompliziert zu beschreiben, sagt er. Und fängt dann mit einer weiteren seiner langen Erklärungen an.

Denn richtig plastisch kann er es vor allem am Beispiel der Bücher des polnischen Autors Jakub Małecki erzählen, der in Deutschland bislang noch kaum bekannt ist, der aber in seinem Heimatland längst als wichtige Stimme gilt. Ruzicska hat Małecki bei einer Reise nach Krakau kennengelernt. Zuerst war da nur das Cover eines Buches auf Polnisch, das ihn irgendwie ansprach. „Ich kann kein Polnisch“, lacht er.

Am nächsten Tag hatte Ruzicska die ersten zehn Seiten des Buches auf Englisch gelesen.

Es folgte ein dreistündiges Gespräch mit dem Autor am übernächsten Tag. „Was da für eine Magie wirkte, verstehe ich bis heute nicht“, sagt Ruzicska und kratzt sich am Kinn. Letztes Jahr verlegte er „Rost“, den ersten Roman Małeckis, in Deutschland über eine polnische Kleinstadt, in der während des Zweiten Weltkriegs unsägliche Gräueltaten passierten. In diesem Jahr folgt Małeckis zweiter Roman, „Saturnin“. „Diesmal“, verrät Ruzicska mit leuchtenden Augen, „ist das Buch von der Großmutter des Autors inspiriert“, und beginnt, auch noch von diesem Buch zu erzählen.

Wie es weitergehen wird

Inzwischen ist es aber wirklich Abend geworden in Berlin, Zeit, das Gespräch in geregelte Bahnen zu lenken, ein paar letzte, Pflichtfragen zu stellen. Zum Beispiel die: Wird Secession nach dem Weggang des Kompagnons nun ein Einmannverlag bleiben? „Die Zukunft kennt viele Wege, wir müssen sie nur gehen“, sagt Ruzicska.

Und wie es weitergehen wird mit Secession, wenn Corona vorbei ist? „Ach“, seufzt Ruzicska, und wird zum ersten Mal ein bisschen still an diesem Abend. „Die Bücher aus dem kommenden Frühjahr haben alle das Format, größere Schiffe zu werden, ich wünschen es ihnen. Und dann segeln wir weiter in die Zukunft hinein.“

Und dann wedelt er schnell wieder wild mit den Händen. „Ruhig werden aber werde ich auch dann natürlich nicht“, lacht er.

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