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Stücke über selbstbestimmtes SterbenSo geht Enttabuisierung

Das Hamburger Schauspielhaus und das Schauspiel Hannover beschäftigen sich mit selbstbestimmtem Sterben. Beide Stücke sind höchst gelungen.

Fast wie in Mexiko: Eine Beerdigung, im Stück „Aus dem Leben“ als Feier des Lebens inszeniert Foto: Thomas Aurin/Deutsches Schauspielhaus

Wenn der Arzt die tödliche Diagnose stellt oder einen die Nachricht vom Ableben eines geliebten Menschen erreicht, dann bestimmt plötzlich der Tod das Bewusstsein – während sonst und bis dahin ja die Verdrängungsmechanismen recht gut wirken. Seitdem vor allem im Hospital, Hospiz oder allein daheim gestorben wird, also nicht in der Gemeinschaft, ist der Tod aus dem Alltag verschwunden. Wer steht schon gerne ohnmächtig dem Fakt gegenüber, hinfällig zu sein?

Einerseits ist genau das der Anfang allen Denkens: Der unhintergehbare Tod lässt die Idee eines selbstbestimmten Individuums als Illusion erscheinen, verdeutlicht die Begrenztheit des Daseins und Begreifens. Andererseits definiert der alte Schnitter auch das Ende allen Denkens: Da der Tod nicht zu unserer Erfahrungswelt gehört, lässt sich vieles glauben über ihn, aber wenig sagen.

Das macht Angst, und die will niemand. Vielleicht hilft die Beschäftigung damit, das Vorwegnehmen der eigenen Endlichkeit, besser damit umgehen zu können? Zumindest fällt auf: Gerade in der derzeitigen dunklen Jahreszeit richten Theater gerne Abende über den Tod aus. Mit „Anatomy of a suicide“ am Schauspiel Hannover und „Aus dem Leben“ am Schauspielhaus Hamburg sind derzeit zwei höchst gelungene Produktionen im Norden zu sehen.

Künstlerisch so schlicht wie überzeugend gehen in Hamburg Regisseurin Karin Beier und die Journalistin Brigitte Venator ans Werk: Sie wollen darstellen, was sich geändert hat seit dem Verfassungsgerichtsurteil aus dem Frühjahr 2020, das ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben anerkennt. Venator führte daher Interviews mit Akteuren an der Grenze zwischen Leben und Tod.

Die O-Töne wurden zu monologischen Textblöcken verdichtet, mit denen ein famoses Ensemble nun plastische Charaktere entwickelt. Da erzählen zwei Ster­be­be­glei­te­r:in­nen (Markus John, Julia Wieninger) ihre Lebensgeschichte und berichten darüber, welche Menschen warum um Sterbehilfe bitten, wie die Begleitung in den Tod konkret abläuft und wie sie straffrei bleibt: Es sei Dienst am Menschen, ein Akt der Barmherzigkeit.

Die Stücke

Aus dem Leben: 9. + 10. 1.; 21. 2., Hamburg, Deutsches Schauspielhaus

Anatomy of a suicide: 16. + 22. 1.; 2. + 11. 2., Hannover, Schauspielhaus

„Der Freitod ist ein Privileg des Humanen“, schrieb 1976 bereits Jean Améry in seinem Buch „Hand an sich legen“. Und spätestens wenn der Mitschnitt des letzten Telefonats einer unheilbar qualvoll dahinlebenden Querschnittgelähmten eingespielt wird, ist dem kaum zu widersprechen. Alle Befragten berichten, wie fröhlich und entspannt Suizidwillige werden, wenn ihr Todestermin feststeht: Sie erlebten so ihre Autonomie und „haben keine Angst mehr, elendig zu verrecken“, sagen die Sterbebegleiter:in­nen.

Eine Palliativpflegerin (Lina Beckmann) beschreibt dann den Hospizalltag zwischen letzten Wünschen und letztem Röcheln. Der Sohn (Maximilian Scheidt) suizidwilliger Eltern vitalisiert seine anfängliche Empörung wie auch das schlussendliche Verständnis, ein Krebspatient (Carlo Ljubek) legt die Verzweiflung offen, angesichts hilflosen Leidens oder der unendlichen Traurigkeit in palliativer Benebelung den Mut aufbringen zu wollen zum bewusst gegen sich selbst zu vollziehenden Gewaltakt.

Locker werden die Sprech-Spielpassagen ineinander verschränkt und dezent mit szenischer Aktion illus­triert. Zu erleben sind ausschließlich Be­für­wor­te­r*in­nen des Freiheitsrechts auf Suizid, die Regie konterkariert diese Position nur marginal durch eingeblendete kritische Stimmen aus einer einschlägigen Bundestagsdebatte.

Beeindruckend ist die uneitle Kunst der Menschendarstellung bis hinein in Momente, wo die Stimmen brechen, Tränen nicht mehr zurückzuhalten sind oder mit betont sachlichem Tonfall gegen tobende Gefühle angekämpft wird. Die Bühne dafür ist ein Trauerfeiersaal, der aber auch zur Party-Location werden kann: So wird den ganzen Abend über ein opulentes Büfett mit immer neuen Speisen und Getränken aufgetragen sowie final eine Beerdigung wie in Mexiko als überbordende Feier des Lebens zelebriert.

Die anfangs scheu bis beschämt artikulierte Beschäftigung mit dem Sterben hat zur Akzeptanz des Todes geführt, was ihn nicht schöner, erträglicher, schmerzloser macht. Aber normaler. Ein erhellend informativer und dank des einfühlsamen Spiels eindrücklicher Abend. So geht Enttabuisierung.

Um Suizid, einen ganz konkreten, geht es in Alice Birchs „Anatomy of a suicide“, das nun in Hannover auf die Bühne gebracht wird: Depression, geringe Selbstachtung, Hoffnungslosigkeit sind häufig der Grund dafür, dass sich in Deutschland jährlich rund 10.000 Menschen selbst töten. Global ist Statistiken zufolge die Zahl der Betroffenen größer als die von Kriegs- und Mordopfern.

In Lilja Rupprechts „Anatomy“-Inszenierung wird eines sofort klar: die Unfähigkeit, über solche Dinge ins Gespräch zu kommen. Carol (Sabine Orléans) tritt mit bandagiertem Unterarm auf, „tut mir leid“, sagt sie in trostloser Beiläufigkeit. Ihr ratlos-liebevoller Gatte stottert schamvoll herum ums Pulsadernaufschneiden.

Still litt und leidet Carol am unheilvollen Rollenmuster Hausfrau, aber genauso an schmerzhaften Erinnerungen, Ängsten und erbarmungslosen Selbstzweifeln – eine überwältigende Antriebslosigkeit macht sich breit. „Ich bringe es gerade noch fertig einzuatmen“, sagt sie, zunehmend in sich zusammengesunken. Elektroschocks und Psychotherapie hat Carol über sich ergehen lassen. Nun greift sie zum letzten Verbindungsstrohhalm zur Welt: Sie fügt sich dem gesellschaftlichen Gebot der Mutterschaft.

Das paralysierende Gefühl bleibt. Tapfer hält die Mutter durch bis zum Schulabschluss der Tochter. Danach ist die Selbsttötung keine bloße Option mehr, sondern hat sich ausgewachsen zur Notwendigkeit: Am Leben zu bleiben, das erscheint Carol einfach als noch schrecklicher.

Dem Stück zufolge werden Erfahrungen mit der suizidalen Mutter als soziale Prägung weitergegeben. Wie in antiken Dramen, wo Kinder oder ein ganzes Geschlecht für die Sünden der Väter gestraft werden, gelingt in „Anatomy“ der weiblichen Erbfolge keine erfolgreiche Suche nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und erfüllendem Leben: Anna (Amelle Schwerk) versucht die innere Leere mit Sex, Partys und Drogen zu betäuben, lässt sich auch auf fatale Beziehungsmuster ein, wiederum inklusive Kinderkriegens – und gibt dann entkräftet ihr Leben auf. Tochter Bonnie (Caroline Junghanns) ist eine unsicher augenklimpernde, mürrische Ärztin. Nähe erträgt sie nicht. Familie ist ihr ein Graus, Gebärfähigkeit zuwider. Um ganz sicherzugehen, dass mit ihr die Depressionsfortpflanzung endet, lebt sie lesbisch und will sich sterilisieren lassen.

Hilfe in Notlagen

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber: Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (☎ 0800 / 11 10-111, -222; www.telefonseelsorge.de).

Die Inszenierung collagiert die Geschichten der drei, faszinierend verzahnt sich dabei die Wortpartitur, wenn Sätze aus der einen wie Antworten aus einer anderen Handlungsebene klingen, Formulierungen mehrerer Figuren synchron sind oder Diskurse, Situationen und Charaktere unheimliche Echos in den unterschiedlichen Zeiträumen erzeugen.

Als Ausdruck ihres Entsetzens, nicht mutterglücklich korrekt zu empfinden, skandiert Carol in einer vergeblichen Befreiungstanzszene immer wieder „mein Kind!“, während sich Anna für einen Dokumentarfilm des Freundes ihr Drogenelend von der Seele redet und Bonnie in ruckelige Selbstumarmungskrämpfe versinkt. In Gegenüberstellung und Spiegelung wird die Form zum Inhalt und behauptet, wie die Biografien der Frauen zusammengehören, ja, einander geradezu bedingen.

Fraglos taugt die Inszenierung zur Verständigung über Depression als mögliche Krankheit zum Tode. Da die Darstellerinnen ihre Schmerzensfrauen tiefenscharf als Menschen ernst nehmen, kann sich das Publikum hineinfühlen – auf dass vielleicht die stumme Verzweiflung und Einsamkeit der Sterbewilligen, ihre Unbeholfenheit und ihre Not nicht erst beim Quietschen der Vollbremsung hörbar werden: Wenn wieder mal ein Lokführer vergeblich einen Suizid zu verhindern versucht.

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