Bildung von Rom:nja- und Sinti:ze: Der Helfer von St Pauli
In Hamburg werden Sinti- und Roma-Schüler*innen gezielt gefördert. Zum Beispiel durch Bildungsberater Dzoni Sichelschmidt. Ein Schulbesuch.
Sechs Augenpaare richten sich auf Sichelschmidt. „Und, wie fühlt ihr euch?“, fragt der hagere Mann mit Sidecut, Jeans und Lederboots auf Deutsch. „Was war heute gut, was war schlecht?“ Habibe erzählt vom Theaterunterricht: „Eigentlich traue ich mich nicht, zu lesen, weil das für mich peinlich ist, aber heute hab ich das geschafft“. „Schlecht war Deutsch“, sagt Elmedina. „Ich hab so viele Fehler gemacht!“ „Aber du hast doch auch so gute Sachen gesagt“, wendet Sichelschmidt ein. „Überleg noch mal, was gut war, und sag es auf Romanes.“
Alle Schüler*innen gehören der Minderheit der Sinti*zze oder Rom*nja an, genauso wie ihr Lehrer. Zu Hause sprechen sie neben Romanes auch Deutsch, Rumänisch, Türkisch oder Serbisch – je nachdem, ob ihre Familie im Zuge der EU-Osterweiterung, aufgrund der Balkankriege in den 90ern oder als Gastarbeiter*innen in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland gekommen ist. Die Sinti*zze wanderten vor mehr als 600 Jahren auf das Gebiet der heutigen Bundesrepublik ein.
Romanes lernen viele zu Hause nur bruchstückhaft. Der Unterricht soll den Schüler*innen helfen, sicherer in der Sprache ihrer Minderheit zu werden. Aber nicht nur das. Mit den Romanes-Stunden will Sichelschmidt in der Grundschule St. Pauli sowie an der Stadtteilschule am Hafen einen Raum schaffen, in dem die Kinder sich gegen Diskriminierung wappnen und Selbstvertrauen schöpfen können.
Nur 10 Prozent machen Abi
Als „Bildungsberater für Sinti und Roma“ unterstützt er sie aber auch dabei, einen deutschen Schulabschluss zu erwerben. Ihre Chancen darauf stehen vergleichsweise schlecht, wie die RomnoKher-Studie 2021 zeigt. Noch immer gehen knapp 15 Prozent der Jugendlichen mit Sinti- oder Roma-Hintergrund ohne Abschluss von der Schule, in der Gesamtbevölkerung sind es rund 7 Prozent. Und während im Bundesdurchschnitt rund 50 Prozent der Schüler*innen mit einer Hochschulreife die Schule verlassen, machen unter den Sinti- und Roma-Jugendlichen nur 10 Prozent Abitur.
Damit sich das ändert, werden Schüler*innen mit Sinti- oder Roma-Hintergrund in Hamburg gezielt gefördert. 14 Bildungsberater*innen kümmern sich – wie Sichelschmidt – um die Kinder der Minderheit an ihren jeweiligen Schulen. Bundesweit ist das Modell fast einmalig: Auf eine taz-Umfrage bei den Kultusministerien hin berichten nur Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie die Stadtstaaten Bremen und Berlin von einer ähnlich gezielten Förderung. Romanes-Unterricht in der Schule gibt es nach Angaben der Länder außer in Hamburg nur in Nordrhein-Westfalen.
Romanes-Lehrer Sichelschmidt hatte eigentlich Veterinärmedizin studiert. Wegen der Balkankriege musste er das Studium abbrechen und floh aus dem Kosovo nach Deutschland. Sein Vater saß als Vertreter der Rom*nja im kosovarischen Parlament. Romanes, seine Muttersprache, hörte er im Schulunterricht, im Radio und Fernsehen. „Für mich war es total fremd, dass es in Deutschland nichts dergleichen gab“, sagt er. „Ich möchte den Kindern und Jugendlichen hier vermitteln, dass sie sich nicht verstecken müssen, weil sie Roma-Hintergrund haben.“ Mit den Älteren spricht er über die Geschichte der Minderheit, erklärt, wie Diskriminierung funktioniert und was Zivilcourage ist.
- „Elmedina, warum bist du in der Schule? Für die Lehrer, für deine Freundinnen oder für dich?
- „Für mich!“
- „Und ist es dann wichtig, was die anderen machen oder denken?“
- „Nein.“
- „Dann denk nicht über die anderen nach, fokussiere dich auf dich.“
Bildung ist Luxus
Knappheitsmanager nennt Sichelschmidt seine Schüler*innen, von denen viele aus Bulgarien und Rumänien stammen: „Sie müssen mit sehr wenig Ressourcen und Anerkennung zurechtkommen.“ Während die Kinder im Unterricht seien, verdienten einige Eltern ihren Lebensunterhalt als Reinigungskraft oder auf Hamburger Baustellen, für zwei bis drei Euro Stundenlohn. Manche hätten hier zum ersten Mal fließend Wasser. Für sie bedeuten die paar Euro, die sie am Ende des Monats verdient haben, eine große Errungenschaft, sagt Sichelschmidt. „Sich um die Bildung der Kinder zu kümmern, ist da nicht auch noch drin.“
Aber es gibt noch mehr Gründe, warum Sinti- und Roma-Jugendliche im deutschen Schulsystem benachteiligt sind. Familien, die schon zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland waren, spüren noch immer die Folgen der damaligen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik. Sinti*zze und Rom*nja wurden vom Schulbesuch ausgeschlossen, die wenigen Überlebenden des Völkermords waren meist Analphabet*innen.
Nach dem Krieg standen Lehrer, die während des NS unterrichtet hatten, noch immer in den Klassenzimmern. Viele Eltern entschieden sich, ihre Kinder von ihnen fernzuhalten. Dass Pädagog*innen bis in die 80er rund ein Drittel der Sinti- und Romaschüler*innen auf Sonderschulen verwiesen, befeuerte das Misstrauen gegenüber der Institution Schule weiter.
Hinzu kommen Diskriminierungserfahrungen. Rund 60 Prozent der heute 18- bis 25-Jährigen berichten gegenüber RomnoKher über antiziganistische Diskriminierung während der Schulzeit. „Die Lehrkräfte sind nicht qualifiziert, dagegen anzugehen – das fängt damit an, dass sie noch immer das Z-Wort nutzen“, sagt Daniel Strauß. Der Vorsitzende der gemeinnützigen RomnoKher GmbH setzt sich seit Jahrzehnten für mehr Bildungsteilhabe der Minderheit ein.
Ziel: Empowerment
Neben Fortbildungen in diskriminierungs- und sprachsensibler Unterrichtsgestaltung für die Lehrer*innen fordert Strauß gezielte Unterstützung und Empowerment der Schüler*innen. Nicht exklusiv, aber explizit solle die Förderung sein. Bei der alten Bundesregierung stieß Strauß damit auf Widerstand.
Das Bundesinnenministerium verwies auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, der es verbiete, Menschen etwa wegen Abstammung oder Herkunft beim Erwerb von Bildung zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Fördermaßnahmen würden grundsätzlich nicht ausschließlich für Sinti und Roma angeboten. Auch die neue Bundesregierung erklärt, dass bei Bildungsmaßnahmen ein „inklusiver Ansatz“ verfolgt werde und die Ethnie keine Rolle spiele.
Dabei braucht es explizite Fördermaßnahmen, findet auch Bildungswissenschaftlerin Karin Cudak. Die Sprachentwicklung der Schüler*innen etwa werde durch den Romanes-Unterricht gefördert: „Die Sprachen beflügeln sich gegenseitig.“ Für Kinder sei es extrem anregend, über Bedeutungen nachzudenken und Sprachvergleiche zu ziehen. Hinzu komme die Anerkennung, die mit Romanes als eigenem Schulfach einhergehe.
Daniel Strauß ist überzeugt, dass Sichelschmidt gute Arbeit macht – für die zugewanderten Roma. „Aber für die deutschen Sinti ist Romanes-Unterricht an einer staatlichen Institution undenkbar“, sagt er. Zu schmerzhaft sei die Erinnerung an den Nationalsozialismus: Damals lernten NS-Forscher die Sprache der Minderheit, um sie auszuhorchen und ihre Vernichtung zu organisieren. „Solange die Überlebenden noch am Leben sind, nehmen wir darauf Rücksicht“, erklärt Strauß. Wenn Romanes-Unterricht, dann müsse er von Sinti organisiert werden.
Hilfe auch nach dem Unterricht
„Sprachförderung ist nur ein Baustein neben vielen“, mahnt die Co-Autorin der RomnoKher-Studie. Zusätzlich brauche es Stipendienprogramme, damit der Besuch von weiterführenden Schulen oder der Uni nicht zur finanziellen Belastungsprobe für die Familien werde. Außerdem fordert Cudak Unterstützungsangebote – beim Lernen genauso wie für den Kindergeldantrag.
In St. Pauli versucht Sichelschmidt das umzusetzen. Jeden Dienstag gibt es für die Sinti- und Romakinder seiner beiden Schulen eine Nachmittagsbetreuung im nahegelegenen Kinder- und Jugendzentrum, dem „Haus der Familie“. Neben Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe wird gemeinsam gekocht und zu Abend gegessen. So auch an diesem Dienstag. Laut schnatternd und in Zweierreihen spazieren rund 20 Schüler*innen zum Kinder- und Jugendzentrum. Auf halbem Weg macht der Zug Halt, vor dem Haus von Susanna**.
Die Viertklässlerin war an diesem Dienstag nicht in der Schule, aber ins „Haus der Familie“ möchte sie trotzdem mit. Sichelschmidt klingelt an der Haustür. „Hallo Dzoni, Susanna kommt gleich runter“, ruft ihr Vater durch die Gegensprechanlage.
„Warum warst du heute nicht in der Schule?“, fragt Sichelschmidt das Mädchen, als die Gruppe sich wieder in Bewegung setzt. Susanna vergräbt ihre Hände in den Jackentaschen und weiß nicht so recht, was sie antworten soll. „Na, darüber reden wir später. Schön, dass du da bist“, sagt er. Mit Schüler*innen Kontakt zu halten, wenn sie der Schule fernbleiben, gehört zu Sichelschmidts Aufgaben. Bei ihrer Rückkehr begleitet er die Kinder sogar in den Unterricht und unterstützt sie.
Weniger Fehltage
Seit er das tut, ist die Schulabstinenz massiv zurückgegangen, berichtet Kunst- und Englischlehrerin Edda Simon: „Fast alle Kinder kommen zur Schule.“ Für sie sei Sichelschmidts Arbeit eine große Entlastung – weil er ständig mit den Kindern spreche, aber auch Vermittlungsarbeit leiste: „Ich habe durch ihn ganz viel über die Roma-Community gelernt und kann die Kinder jetzt viel besser verstehen“, sagt Simon. „Und er berät die Eltern und sorgt für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Eltern und Schule.“
Nicht allen Eltern sei es ein Anliegen, dass ihre Kinder den Abschluss schaffen, weiß Sichelschmidt. „Einige Familien sind sehr traditionell und finden, dass die Mädchen lieber früh heiraten sollen“, berichtet er. „Da sage ich den Mädchen immer wieder: Setzt eure Meinung durch.“ Die Diskussionen zu Hause ließen dann nicht lange auf sich warten.
Die Kinder auf dem Weg zum Jugendzentrum beschäftigt vor allem, was es gleich zum Abendessen gibt. „Wir stimmen jetzt demokratisch ab: Sollen wir Kartoffelbrei mit Würstchen oder Spaghetti Bolognese kochen?“, fragt Sichelschmidt in die Runde. Vierzehn Hände schnellen in die Höhe. Das Votum ist eindeutig: Spaghetti.
** Name von der Redaktion geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch