Autobiografie von Musiker John Lurie: Gräten und andere Abfälle
Jim Jarmusch, Basquiat, The Lounge Lizards: Sie alle kommen vor in „The History of Bones“, der Autobiographie des New Yorker Musikers John Lurie.
Eine der ersten Erinnerungen: Samstagmorgens vom Vater geweckt zu werden, um gemeinsam fischen zu gehen, Ende der 1950er Jahre in Massachusetts. „Es war so früh, dass wir noch nicht reden konnten und einfach nur über alles lachten“, heißt es in „The History of Bones“, der gerade erschienenen Autobiografie des New Yorker Musikers John Lurie.
Jahrzehnte später kommt es in der von ihm realisierten TV-Interview-Serie „Fishing with John“ zu einer Reminiszenz an den früh gestorbenen Vater und diese prägenden Erlebnisse: Zu zweit im Boot sitzen und sehen, was passiert. In jeder Folge nahm Lurie (semi-)prominente Bekannte mit zum Angelausflug: Jim Jarmusch, Tom Waits und Willem Dafoe, Protagonisten der East-Village-Szene der frühen 1980er Jahre.
„Bones“ sind die Gräten, das, was übrigbleibt. Verblichen wie die Fotostreifen aus den Passbildautomaten der U-Bahnhöfe, die der nun erschienenen Autobiografie von John Lurie den Titel gegeben haben: „The History of Bones“. Sie dokumentiert sein erstes Jahrzehnt in New York: Zuerst im Lennon-Look mit langem Haar und Bart, später kahlrasiert oder mit Biker-Moustache.
Die Lower East Side war ein Biotop, geschützter Raum für Gegenkultur, die gebraucht erstandene oder geklaute Kleidung mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt, die Jungs in Anzügen und schmalen Krawatten, Konzerte im CBGB’s und Mudd Club, experimentelle Super-8-Filme, Punk, No Wave und Underground-Cinema.
Mit Basquiat in der Sozialwohnung
Es war Stomping Ground von Noise-Geiger „Boris Policeband“, der live zu Mitschnitten aus dem Polizeifunk improvisierte, und Lurie mit Jean-Michel Basquiat in seiner Sozialwohnung in der East Third Street an den Bahngleisen. „Es stank nach Pisse und Erbrochenem“, erinnert sich Lurie.
Sozialwohnungen wurden an New Yorker*innen mit niedrigem Einkommen für 55 Dollar im Monat vergeben. Basquiat schlief auf dem Fußboden, um ihn herum Filmequipment von Jim Jarmusch für seinen Debütfilm „Permanent Vacation“, übrig gebliebene Leerfilmrollen von Wim Wenders. Lurie war einer der Schauspieler und komponierte die Musik für den Soundtrack. „Wir waren uns unserer Sache so sicher, dass wir nie an etwas gezweifelt haben.
John Lurie: „The History of Bones. A Memoir“. Random House, New York 2021, 448 Seiten, ca. 30 Euro
Wir waren stark, klug, energisch, selbstbewusst, egozentrisch und erstaunlich naiv. Nichts außerhalb unseres Radius von 14 Straßenblocks war von Bedeutung. Von der East-Houston bis zur 14. Straße, von der Bowery bis zur Avenue A reichte das einzige Universum.“
Lurie übt Saxofon, bis ihm „die Lippen bluten“, kann die Stromrechnung nicht mehr zahlen, ist heroinabhängig. Er arbeitet als Hausmeister, wischt Fußböden, steht in einer Dosenfabrik am Fließband und jobbt eine Zeit lang als Nachtportier. Daneben dreht er eigene Super-8-Filme und arbeitet an seiner Musik. 1979 gründet er mit seinem Bruder Evan The Lounge Lizards, eine Band, die Punk, Noise und Jazz verbindet und in der Szene schnell Kultstatus erreicht.
„Fake Jazz“ oder „No Jazz“, wie No-Wave
Die Leute stehen Schlange, Warhol sitzt in der ersten Reihe: John Lurie spielt Sopran- und Altsaxofon, Arto Lindsay seine 12-saitige E-Gitarre, Evan Lurie eine Farfisa-Orgel, Steve Piccolo Bass und Anton Fier Schlagzeug.
„Zu diesem Zeitpunkt machte im East Village niemand etwas, von dem er wirklich wusste, wie es geht. Alle Maler hatten Bands. Alle Musiker drehten kleine Filme. Ich hatte jahrelang hart an der Musik gearbeitet, musste aber verheimlichen, dass ich tatsächlich spielen konnte oder jeden Tag übte.“ So nennt Lurie seine Musik selbstironisch „Fake Jazz“. Es hätte auch „No Jazz“ heißen können, angelehnt an die wenige Jahre zuvor geborene No-Wave-Szene, als Verweigerung jeglicher Zuschreibungen.
Es ist die verhasste Zeit von Reagans US-Präsidentschaft und der Neocons mit dem Gegenmodell des „Fakens“, des Vorgebens, etwas zu können, niemand glaubt an eine Zukunft, nur Ironie schafft den notwendigen Distanzraum.
Lurie schreibt offen von Depressionen, Panikattacken und der Suche nach einem Ausweg: „Ich übte, las, hörte und studierte Musik, bis ich begann, Teile von mir selbst in der Musik zu finden, winzige kleine Durchbrüche. Ich verschlang Musik aus Bali und Tibet, Strawinsky, Varèse, Mingus, Messiaen, Dolphy, Monk, Ornette, Bird, Hendrix, Coltrane. Es war eine Suche nach meinem eigenen Klang auf dem Altsaxofon und nach einer Art mystischer Transzendenz.“
Verpasste Chancen und Vorwürfe
Diesen findet er zuerst mit Arto Lindsay von der No-Wave-Band D.N.A. und dem Punk- und zeitweiligem Pere-Ubu-Drummer Anton Fier. Später kamen unter anderem der Steel-Gitarrist Marc Ribot und die Cellistin Jane Scarpantoni dazu, der Vibrafonist Bryan Carrott oder der Posaunist Curtis Fowlkes. Lurie selbst komponierte seine Musik als eklektische Collage verschiedener Genres und komplexer Rhythmen und Tempowechsel, teilweise auch stark verlangsamt und mit epischen, modalen Klangflächen.
Zuletzt hadert er jedoch mit verpassten Chancen: „Die besten Lounge-Lizards-Songs kamen erst am Ende der Band zustande und wir hatten keine Möglichkeit, sie aufzunehmen. Das ärgert mich wirklich, dass diese Musik im Grunde ungehört blieb.“ Krankheitsbedingt löst er die Band 1998 auf, aufgrund einer Lyme-Borreliose kann er nicht mehr spielen und beginnt zu malen. Eigenartig zarte Papierarbeiten, mit Titeln wie „Pig Wolf was hopelessly lost but refused to admit it“.
Vorwürfe gegen Basquiat und Jarmusch (obwohl er Basquiats Porträt von ihm als Profilbild bei Twitter nutzt), die Ideen von ihm gestohlen hätten, lassen die Memoiren auf bizarre Weise überheblich, selbstmitleidig und verbittert klingen und strapazieren die Geduld beim Lesen. Gleichzeitig zeigt er sich rührend ehrfürchtig vor Helden wie Monk und Coltrane und sogar zauberhaft scheu, mit Sätzen, die in der Luft schweben und langsam durch den Raum gleiten, wie seine tänzelnden Soli auf „Harlem Nocturne“ und „No Pain for Cakes“, von seltsam berückender Schönheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!