Japanische Musikerin Phew: Aunt Sally randalierte
Punk, Krautrock, New-Wave: Die japanische Musikerin Phew rührt in vielen Töpfen. Zwei Alben dokumentieren ihre schon 40-jährige Lust am Experiment.
Erschütterungen bringen Unordnung. In Japan, einem Land, das großen Wert auf Ordnung legt, kann das unkalkulierbare Folgen haben. Das kulturelle Beben, ausgelöst 1976 von Punk in London, war noch in Osaka zu spüren. Jedenfalls wenn man, wie die damals 16-jährige Hiromi Moritani, ohnehin hadert mit gesellschaftlichen Erwartungen. Entnervt von Rollenklischees, die Frauen in Japan fast ausschließlich als Tochter, Ehefrau, Mutter oder Haushälterin sehen, dreht sie Ende 1976 den Fernseher an und entdeckt durch Zufall: einen Auftritt der Sex Pistols.
Wut, Chaos, Energie. „Ich wusste sofort, dass ich das mit eigenen Augen sehen musste.“ Sie überzeugt ihre Eltern, sie im folgenden Sommer für einen Monat zu einem Sprachkurs nach England zu schicken. Die raue Energie der Auftritte von Punkbands wie the Damned, Siouxsie & the Banshees und all den anderen, die sie in jenen Wochen in London sieht, brennen sich dennoch ein bei der inzwischen 17-Jährigen. „Als ich wieder in Osaka war, hängte ich sofort Zettel in Musikhandlungen und Plattenläden auf. Ich suchte Musiker, um eine eigene Band zu gründen.“
Es ist der Anfang einer langen Karriere. Wenig später wechselt Hiromi den Namen zu Phew und wird zu einer zentralen Figur neuer japanischer Musik. Sie nimmt mit Musikern von Can über DAF bis zu den Neubauten auf und doch rangiert ihr Name in Deutschland bis heute bestenfalls als Geheimtipp.
Nahezu parallel sind nun zwei Alben erschienen und rahmen die ersten gut vier Jahrzehnte ihrer beeindruckenden Laufbahn: die Neuauflage ihres Debütalbums als Aunt Sally aus dem Jahr 1979 sowie das jüngste, als Phew veröffentlichte mit dem Titel „New Decade“.
Phew: „New Decade“ (Mute/Rough Trade)
Aunt Sally: „Aunt Sally“ (Mesh Key)
Skeptisch beäugt
Sie zeigen, wie Phew in Japan zu einem legendären Namen wurde und warum das auch in Deutschland mehr Menschen interessieren sollte. Was Phew nach ihrer Rückkehr aus London zusammenstellt, ist zunächst weniger eine Band als eine Idee. Sie sucht Gleichgesinnte, um die egalitäre Energie des Punk nach Osaka zu bringen. Vorspielen muss dazu niemand. Es reicht völlig, die richtige Musikzeitschrift zu beziehen. Ein Abo des Magazins New York Rocker etwa sichert der Gitarristin Bikke ihren Platz. „Keine von uns hatte vorher in Bands gespielt. Wir hatten keine musikalische Richtung im Sinn“, erinnert sich Phew an diese Stunde null zurück.
Klarer ist dafür die politische Richtung: Der Bandnamen Aunt Sally, den Phew aus England mitbringt, benennt dort ein altes Spiel, das auf Märkten und in Pubs gespielt wurde, teilweise bis heute. Dabei wird ein Frauenkopf aus einiger Entfernung gezielt mit Stöcken beworfen. Es gewinnt, wer mit einem Wurf die Tonpfeife im Mund der Frau zerbricht. „1978 gab es kaum Bands, die von Frauen geleitet wurden. Als Sängerin und Kopf der Band wählte ich diesen Namen, um zu zeigen, dass wir auf die zu erwartenden Reaktionen vorbereitet waren und uns selbstironisch dem ganz überwiegend männlichen Publikum stellten.“
Von der lokalen Szene skeptisch beäugt, entwickeln Aunt Sally sich rasant: Ein nach der Auflösung der Band veröffentlichtes Album mit Liveaufnahmen aus den Jahren 1978 und 1979 zeigt noch eine Punkband, deren Tempo nur von ihrem Enthusiasmus übertroffen wird. Dominiert von einer Orgel und Phews ungestümem Kreischen randaliert die Band durch Songs der Ramones („Blitzkrieg Bop“) und The Who („My Generation“).
Doch Aunt Sallys erstes und einziges Studioalbum, 1979 vom heute kultisch verehrten japanischen No-Wave-Label Vanity Records veröffentlicht, hat mit dem frühen Sturm-und-Drang-Sound der Konzerte nichts mehr zu tun. Mal erinnern die Songs an Post-Punk-Miniaturen, karg wie Young Marble Giants bulimische Antwort auf die fetten Punkjahre. Mal sind es Spielmannszug-artige Melodien, wie der düstere Walzer „Sameta Kajiba De“, den grelle Keyboards immer weiterdrehen.
Zu tun, was immer man wollte
Im Mittelpunkt steht Phews Stimme, dunkel und stark, verstörend fast in der apokalyptischen „Bruder Jakob“-Adaption namens „Loreley“. Trotz winziger Auflage entspinnt sich ein legendärer Ruf um Aunt Sally und dieses Album. Sie ist der in Vinyl gepresste Beweis, dass Punk ursprünglich kein Genre, sondern eine Erlaubnis war: zu tun, was auch immer man tun wollte. Phew hat das Einzigartige dieser kurzen Phase verstanden: „Ich wollte unbedingt noch ein Album veröffentlichen, während Punk in London passierte“, sagte sie. Die Pistols hatten sich im Februar 1978 bereits aufgelöst, kaum dass Aunt Sally sich gegründet hatte. Schon als ihr Debüt erschien, war Punk für Phew vorbei.
Ihre Karriere aber legte dann erst los. Ryuichi Sakamoto, Keyboarder des damals angesagten Elektronikpop-Trios Yellow Magic Orchestra, wird auf Phew aufmerksam, produziert 1980 eine Solosingle mit ihr und plötzlich ist Phew ein Künsterlinnenname, über den man spricht in Japan. Ihr Label sieht eine Verbindung in der dunklen Kühle ihrer Stimme und der soundhungrigen Posse um den Starkstromingenieur und Krautrock-Paten Conny Plank.
Gerade 19 geworden, schickt ihr Label Phew nach Westdeutschland in Planks umgebauten Schweinestall bei Köln. Ebenfalls anwesend in diesem Studio: die Bandmitglieder Holger Czukay und Jaki Liebezeit von Can. Zu viert nehmen sie ein frostig, halliges, minimalistisches musikalisches Kleinod auf, auch dies ist in Deutschland sträflicherweise bis heute unbekannt geblieben. „Can waren für mich enorm wichtig. In meiner Jugend hörte ich ihr Doppelalbum ‚Future Days‘ immer und immer wieder. Dass mich diese Kölner Musiker wie ihresgleichen behandelten, dass meine Beiträge zu unseren Jamsessions so viel zählten wie ihre, das war eine neue und unglaublich wichtige Erfahrung für mich.“
Alles wurde improvisiert
Zehn Jahre später kehrt Phew zurück in Planks Studio, um mit einer neuen Generation deutscher Musiker aufzunehmen. Auf dem 1991 beim britischen Label Mute erschienen Album „Our Likeness“ ist Alex Hacke von den Einstürzenden Neubauten dabei sowie der 2004 verstorbene Gitarrist und Elektronik-Maschinenstürmer Chrislo Haas (DAF, Liaisons Dangereux, CH-BB); am Schlagzeug sitzt wiederum Jaki Liebezeit.
Weniger geschlossen im Sound als ihre Solodebüt, aber allemal ein faszinierender Avant-Elektronik-Kosmos, getragen von feinmotorischen Rhythmen, vielen improvisierten Elektrosounds und Phews Stimme. „Die Aufnahmen liefen ganz ähnlich wie beim ersten Mal. Nichts stand im Vorhinein fest, alles wurde im Studio improvisiert. So etwas kann nur klappen, wenn man sich gegenseitig vertraut und respektiert.“
Seither rührt Phew in mehr Töpfen als Yotam Ottolenghi. Gemeinsam mit Ana da Silva, Mitbegründerin der britischen Post-Punk-Ikonen Raincoats, nimmt sie atmosphärische Elektroskulpturen auf. Regelmäßig spielt sie mit dem in Tokio lebenden US-Künstler und Produzenten Jim O’Rourke, mischt unter Namen wie Most oder Novo Tono gemeinsam mit anderen japanischen Fringe-Musikern Rock, Elektronik mit Improvisationen. „Es gibt in Japan keinerlei Unterstützung für experimentelle Musiker:innen.“ Vielleicht auch deshalb wirkt Phew seit Jahren hyperaktiv und veröffentlicht nahezu im Monatstakt.
In Deutschland taucht davon bislang selten etwas auf. Weshalb es eine gute Nachricht ist, dass Phew nun, nach 30 Jahren Pause, wieder ein Album bei Mute veröffentlicht. Und schon der Titel „New Decade“ zeigt, dass sie noch keinen Grund sieht, nach hinten zu schauen. Es sind sechs lange, unsentimentale Soundscpaces.
Ihr eigentliches Instrument, die Stimme, formt diese Stücke, aber dominiert sie nicht. Sie pendelt souverän zwischen Flüstern und Kreischen, bis unüberhörbar wird: Phew ist hier auf der Höhe ihrer Kunst. Mit großer Selbstverständlichkeit navigiert sie durch apokalyptisch plockernden Noise („Days Nights“), Klangfelder breit wie Sternenstaubwüsten („Into the Stream“) und hypnotisches Sci-Fi-Synthiewabern („Flashforeward“). Klingt so die andere Seite eines schwarzen Lochs?
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