: Das provisorische Leben
Die Ausstellung „Freistaat Barrackia“ im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien erinnert an die Geschichte von Besetzungen in Berlin und anderswo
Von Tom Mustroph
Wohnraummangel ist ein ewiges Thema Berlins. Bereits in den Anfängen als Reichshauptstadt im Sommer 1871 besetzten Tausende Berliner Hütten auf dem Tempelhofer Feld. Hier waren zuvor französische Kriegsgefangene untergebracht. Spontane Barackenstädte entstanden wenig später am Stralauer Tor und in Kreuzberg. Auf den damaligen „Kartoffeläckern und Wiesen zwischen Kottbusser Damm und Hasenheide“, wie ein Zeitgenosse schrieb, wurden mehr als 100 Holzbaracken gebaut. „Jeder hatte sich sein Baumaterial selbst besorgt: Bretter für die primitiven Holzbuden mit zwei kleinen Stuben, Fenster und Türen von irgendwelchen Abrißbaustellen. Manche Hütten besaßen sogar einen Anbau mit Küche und Vorratskammer, aus dem das herausgesteckte Ofenrohr qualmte. Andere stellten sich zum Kochen ihr eisernes Öfchen ins Freie oder hatten sich einen Herd zusammengemauert“, notierte der Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Nachrichten noch ein Jahrzehnt später. Durchaus mit Sympathie beschrieb er das provisorische Leben. Und er überlieferte auch die Kunde vom „Freistaat Barrackia“, der dort ausgerufen wurde.
Geschichtsbewusste Wohnungssuchende und Hausbesetzer späterer Jahrzehnte berufen sich immer wieder auf den „Freistaat Barrackia“. Auch die gleichnamige Ausstellung im Kunstraum „Kreuzberg/Bethanien“, nur ein paar hundert Meter vom einstigen Barrackia entfernt und selbst Nutznießer der Hausbesetzungen der 1970er und 1980er Jahre, nimmt Bezug darauf. In einer mobilen Ausstellungsbox vor dem Bethanien wird auf die historischen und aktuellen Verhältnisse in Sachen Mietwucher in Berlin eingegangen. Leider prangte in letzter Zeit ein Schloss vor den Boxen und verwehrte den Zugang.
In den Ausstellungsräumen im Gebäude selbst wird ein globaler Bogen gespannt. Die Künstlersiedlung Village des Arts, die in Dakar in Senegal durch eine Hausbesetzung entstand, stellt ein Filmprojekt von Mansour Ciss Kanakassy vor. Auf die Quilombos, freie Siedlungen entlaufener Sklaven in Lateinamerika, weisen Projekte von Angela Ferreira und Rashida Bumbray hin. Vor einer Installation, die Elemente des alten Sklavenmarkts der portugiesischen Hafenstadt Lagos aufnimmt, singt Ferreira einen Song über Flucht und Aufbruch. Das Video wird in der Ausstellung gezeigt, Teile der Installation sind aufgebaut.
Bumbray greift in ihrem Video „Braiding and Singing“ die Praxis des Einflechtens von kleinen Objekten in die Haare ein. Ursprünglich wurden Reiskörner und anderes Saatgut in die Haare geflochten, damit Fliehende in den Quilombos Überlebensmöglichkeiten durch autonome Landwirtschaft hatten.
Einen Bogen ins Heute schlägt die dokumentarische Installation „In Search of Heavens Lost“ von Fetewei Tarekegn. Lange Reihen mit Pflanzen sind aufgebaut, wie sie einst auch in der Gartenanlage des Co-Op Campus in der Hermannstraße wuchsen. Der Campus war ein Gartenprojekt von und mit Geflüchteten.
Das Konzept wurde von raumlabor mitentwickelt, Förderung der Kulturstiftung des Bundes floss herein. Workshops zum Umgang mit Pflanzen, aber auch Deutschkurse und künstlerische Projekte wurden hier durchgeführt. Wegen von der Gemeinschaft nicht zu erfüllenden Auflagen des Berliner Senats musste die Anlage aber 2018 aufgegeben werden.
Das ist eine traurige Parallele zum historischen Freistaat Barrackia. Der wurde zunächst auch durch die Berliner Stadtregierung geduldet. Bewohner konnten auch städtische Holzplätze nutzen. Später allerdings räumte die Polizei die Baracken. Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten ins Arbeitshaus, eine Disziplinierungseinrichtung des preußischen Staates.
Zumindest die Arbeitshäuser gibt es nicht mehr. In vielen anderen Aspekten ist das Wohnraummanagement des 21. Jahrhunderts noch nahe am 19. Jahrhundert. Und der Kampf um Freiräume bleibt ein sehr aktuelles Thema.
Bis 16. Januar 2022, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen