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Als ein Schnittlauchbündel zu Tränen rühren konnte

Epochenporträt: Helmut Böttigers „Die Jahre der wahren Empfindung“ sind eine Einladung, die Literatur der siebziger Jahre wiederzuentdecken

Von Oliver Pfohlmann

Preisfrage: Was ist heute schwerer zu glauben? Dass sich Alice Schwarzer bei einem Interview mit einem spanischen Macho-Schriftsteller von diesem ohrfeigen ließ und das Gespräch trotzdem ungerührt fortsetzte? Oder dass es eine Zeit gab, in der Studierende so lese- und theoriehungrig waren, dass sie die in jeder Mensa stehenden Büchertische umlagerten, nur um an einen Raubdruck der „Dialektik der Aufklärung“ zu gelangen; und sich in jeder Universitätsstadt Lektüregruppen bildeten, um Peter Weiss’1.200-seitige „Die Ästhetik des Widerstands“ durchzuarbeiten?

Was für eine seltsame, verrückte, fern anmutende Zeit, diese 1970er. Eines steht nach der Lektüre von Helmut Böttigers Buch „Die Jahre der wahren Empfindung“ ohnehin fest: Für eine Leiche war die Literatur dieses Jahrzehnts überaus lebendig. Erst 1968, dem Jahr, in dem für Böttiger diese „wilde Blütezeit der Literatur“ beginnt, hatte ihr bekanntlich Hans Magnus Enzensberger im Kursbuch den Totenschein ausgestellt. Schließlich stand Literatur, zumal die „bürgerliche“, zu APO-Zeiten unter Ideologieverdacht und galt als Hindernis auf dem Weg zur ersehnten politisch emanzipierten Gesellschaft.

Fünf Jahre später kam es dann mit dem Erscheinen von Peter Schneiders Erzählung „Lenz“ und Karin Strucks Roman „Klassenliebe“ auf dem Buchmarkt zu einem Doppelschlag, der den literarischen Paradigmenwechsel unübersehbar werden ließ. Zu groß war für eine ganze Generation der Gegensatz zwischen politischer Utopie und subjektivem Scheitern geworden, so Helmut Böttiger. Mit einem Mal ging es in der Literatur wieder um all das, was in den ewigen WG-Diskussionen zu kurz gekommen war: das Ich und seine Emotionen. Die neuen Kompliziertheiten im Zwischenmenschlichen. Oder die Zerreißproben, die sich für viele auf ihrem Bildungsweg aus der wachsenden Entfernung vom eigenen Herkommen ergaben. Bezeichnenderweise wurde in dieser Zeit Georg Büchners tragisch zerrissener „Lenz“, der so gerne auf dem Kopf gegangen wäre, nicht nur für Schneider und Struck, sondern auch für Ingeborg Bachmann oder in der DDR Volker Braun zum Referenzpunkt, wie Böttigers Bestandsaufnahme belegt. Ebenso symptomatisch war der immense Erfolg der beiden viel zu früh verstorbenen Lyriker Nicolas Born („Das Auge des Entdeckers“, 1972) und Rolf Dieter Brinkmann („westwärts 1 & 2“, 1975). Vor allem Brinkmann hatte sich mit einer kräftigen Dosis Beatlyrik und Pop-Art geboostert und konfrontierte die bundesdeutsche Wohlstands- und Konsumgesellschaft mit einer neuen Lässigkeit.

Griffige Etiketten

Griffige Etiketten für den Tendenzwechsel wie „Neue Subjektivität“, „Neue Innerlichkeit“ oder „Neue Empfindsamkeit“ waren von der zeitgenössischen Kritik schnell gefunden. Helmut Böttiger, Jahrgang 1956 und Autor eines preisgekrönten Buches über die „Gruppe 47“, verwendet sie in seiner klugen, kenntnisreichen Darstellung jedoch eher mit spitzen Fingern. Aus gutem Grund, denn die Literatur der 1970er sei nicht nur „schwer auf einen Nenner“ zu bringen. Sie sei vor allem auch eine Literatur „verschiedenster ekstatischer Augenblicke“ gewesen und viel mehr als „die Zeit einer BRD noir“.

Tatsächlich geschah, mehr oder weniger zeitgleich, höchst Unterschiedliches: Da versuchte zum Beispiel Peter Handke (dessen 1975 erschienener Roman „Die Stunde der wahren Empfindung“ Böttigers Buch den Titel geliehen hat) so angestrengt, von den Begriffen zur Wahrnehmung zu gelangen, dass ihm schon beim Anblick eines unscheinbaren Schnittlauchbündels eine tränenselige Epiphanie zuteilwurde. Da arbeiteten sich Autoren wie Peter Henisch, Hermann Peter Piwitt und Christoph Meckel an ihren Nazi-Vätern ab, nur um festzustellen, dass man mit diesen mehr gemein hatte, als einem lieb sein konnte. Da begründete Verena Stefan neben Karin Struck mit ihrem autobiografischen Debütroman „Häutungen“ die „Frauenliteratur“, während Autoren wie Peter Weiss und Uwe Johnson in jahrelanger Schreibfron ihre Roman-Monolithen errichteten. Und Wolf Biermann zupfte in der Küche seiner legendären Ostberliner Wohnung in der Chausseestraße bis zu seiner Ausbürgerung 1976 auf seiner „Drahtharfe“.

Die 27 Kapitel von Böttigers furios geschriebenem Epochenporträt, die sich übrigens problemlos separat lesen lassen, folgen denn auch einer nur losen Chronologie. Das Buch beginnt mit der heute herrlich absurd anmutenden Geschichte um das „Puddingattentat“ auf den US-Vizepräsidenten, 1967 von der Kommune I in Uwe Johnsons leer stehender Berliner Wohnung geplant: Der damals in den USA lebende Eigentümer erfuhr erst aus der New York Times von den Ereignissen; Günter Grass durfte sich dann in Johnsons Auftrag als „Rausschmeißer der Pudding-Schmeißer“ betätigen. Und es endet, durchaus plausibel, mit Jörg Fausers (noch so ein früh verstorbener Unvollendeter dieser Ära) halbautobiografischen Drogenkrimis, die den Hedonismus der achtziger Jahre einläuteten.

Die Literatur der Siebziger wirkt bei Böttiger modern und gegenwärtig

Dabei behandelt Böttiger einzelne Au­to­r:in­nen wie Ingeborg Bachmann, Arno Schmidt oder den zu Unrecht in Vergessenheit geratenen DDR-Autor Fritz Rudolf Fries ebenso wie personelle Zusammenhänge. Darunter den Streit zwischen dem Verleger Klaus Wagenbach und seinem Autor Friedrich Christian Delius über das richtige Maß von Politik in der Literatur, der zur Verlagsspaltung und Gründung des Rotbuch Verlags führte. Oder die literarischen wie persönlichen Folgen jenes legendären Sommers, den die DDR-Autorinnen Christa Wolf und Sarah Kirsch 1975 in der mecklenburgischen Provinz erleben durften.

Während der Literatur der DDR immerhin fünf Kapitel gewidmet sind, werden österreichische und vor allem Schweizer Au­to­r:in­nen von Böttiger eher stiefmütterlich behandelt; und der westdeutsche „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ wurde offenbar komplett vergessen. Dafür finden einschlägige Schauplätze wie das „Bundeseck“ in Berlin-Friedenau oder das Ostberliner Weinrestaurant „Ganymed“ ebenso Erwähnung wie prägende Literaturzeitschriften, etwa das legendäre Ulcus Molle Info des Bottropers Josef Wintjes, bis 1990 eine Art papierenes Google der Sub- und Alternativkultur. Besonders lesenswert sind auch jene Passagen, in denen Böttiger mit Zeitzeugen wie Peter Handke oder Irmgard Born, der zweiten Ehefrau Nicolas Borns, spricht und seine zwischen Vogelschau und Textnähe souverän wechselnde Darstellung unversehens reportagehafte Züge gewinnt.

Die Literatur der 1970er wirkt in Böttigers Darstellung in vielem überraschend modern und gegenwärtig und lädt zu Wiederentdeckungen ein, zumal in Zeiten der neuen Sensibilitäten und Identitäten: ob es um das Beharren auf eine subjektiv-authentische Literatur bei Christa Wolf geht oder um Hubert Fichte, den ersten offen schwulen Autor, der mit autofiktionalen Romanen wie „Die Palette“ Gender- und Postkolonialismusdiskurse vorwegnahm. Ob es um Nicolas Borns und Guntram Vespers Kritik am Fortschrittsdenken geht oder um die an einem immer gewissenloseren Journalismus bei Heinrich Böll. Was Letzteren angeht, schafft Böttiger sogar das für unmöglich Gehaltene: Sein packendes Böll-Porträt weckt tatsächlich Lust, wieder die Werke des „guten Menschen von Köln“ zu lesen.

Helmut Böttiger: „Die Jahre der wahren Empfindung“. Wallstein Verlag, Göttingen 2021, 473 Seiten, 32 Euro

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