„Franziska“ am Theater Bremen: Genuss ohne Ende
Als Technicolor-Schauspiel hat Pınar Karabulut in Bremen ihre Fassung von Frank Wedekinds „Franziska“ inszeniert: Laut, krawallig und freiheitsgierig.
Nix Tragödie. Das Ende ist auch bei Pınar Karabulut ein gutes, nein, ein besseres als im Original. Es hat geradezu etwas Triumphales: „Am Schluss“, so beschreibt die Regisseurin den Ausgang ihrer Bremer „Franziska“-Aufführung, „wandelt sie allen Mächten gleichberechtigt auf Augenhöhe und geht ihre eignen Wege“. Inszeniert hat sie das Stück als rasanten Bilderbogen, atemberaubend krawallig und rauschhaft bis zum Taumeln. Freitag war Premiere.
Pınar Karabulut macht Theater, das wirkt, als wäre es in Technicolor inszeniert. Und sie macht schnelles Theater: Ihre Produktionen haben die Wucht, oft auch die Wut und stets das Tempo, die ein saturiertes Publikum schocken und ein neues interessieren können. Die 34-Jährige, seit 2020 Mitglied im Leitungsteam der Münchner Kammerspiele, inszeniert derzeit an den wichtigsten deutschsprachigen Sprechbühnen bis auf die großen Hamburger Häuser, mal sehen, wie lange noch. Ihre wilde, laute, aufdringliche Ästhetik lässt sich nicht aufhalten.
Klar also, dass auch ihre „Franziska“ eigene Wege geht. Und die führen eben nicht in das etwas lahme Landlust- und Familien-Idyll, mit dem Frank Wedekind sein heute nahezu vergessenes Drama einst ausklingen ließ. Sättigung, Beruhigung, Bescheidung gar dichtet er seiner Titelheldin darin ganz unversehens an.
Das ist mit Karabulut nicht zu machen: Sie legt dem mephistophelischen Veit Kunz ein Zitat aus George Michaels Song „Freedom!“ in den Mund, das als Vorgriff auf dessen Coming-out gelesen wird: „Sometimes the clothes do not make the man“ heißt die Zeile, also „Kleider machen manchmal nicht den Mann“, das sagt also Annemaaike Bakker.
Kein chronisches Gretchen
Und die lebensgierige Titelheldin toppt das noch mit einer leider etwas verschluckten ironischen Replik: Er möge sie doch bitte nicht george-michaelisieren, sagt die Hauptdarstellerin Fania Sorel, die sich zuvor völlig hatte verausgaben müssen.
Was auch immer das bedeuten mag, es stellt klar: Sie wird jetzt nicht Kinder kriegen und voltairianisch ihren Garten bestellen. Sie ist kein chronisches Gretchen, das sich in vorgeschriebene Bahnen zurückdrängen lässt.
Wedekinds „Franziska“ ist, grob gesagt, eine feministische Faust-Persiflage. Ihr Teufelspakt besteht darin, dass die Protagonistin zwei Jahre als Mann leben darf, um ihre Freiheitsgier zu stillen. Der Dramatiker hat das seinerzeit angereichert um die Kunst-, Kultur- und Philosophie-Debatten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und ergänzt mit viel bildungsbürgerlichem Ballast – vielleicht, um den absehbaren Skandal etwas zu dämpfen.
Diese Zusatzgewichtigkeit hat Karabulut abgeworfen, sodass das Ding, das kaum je gespielt wird, tatsächlich endlich einmal abhebt. Sie fokussiert die Grundstruktur, macht die direkt parodistischen Szenen stark, infiziert mit diesem respektlosen Spirit durch unmittelbare Faust-Zitate die weniger goetheanischen Bilder und unterstreicht und weitet durch klug montierte Pop-Elemente die Geschlechterkampfdimension:
Nicht nur steht Lady Gaga für die schrillen Outfits Patin, die Aleksandra Pavlović geschneidert hat, es wird auch Michel Rivgauches debiler Yéyé-Chanson „Zou bizoubizou“ im pinken Plaste-Puppenhaus (von Mattel®) intoniert.
Das hat Bühnenbildnerin Johanna Stenzel vom handelsüblichen Pocketformat hochskaliert auf einen bösartig knapp unterlebensgroßen Spielort, der nach Weichmacher zu riechen scheint. Hier, in diesem Modell der Heimeligkeit, müssen sich alle immer hübsch klein machen, um nicht anzuecken: Die schönste Szene des Abends ist ein Kampf zwischen Franziskas Gattin Sophie und Lydia Zipfel, ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin, der von Mirjam Rast und Lieke Hoppe in perfekter Stop-Motion-Motorik ausgetragen wird.
„Franziska – ein modernes Mysterium“, nach Frank Wedekind.Regie und Fassung von Pınar Karabulut. Theater Bremen, Kleines Haus, wieder am 8. und 18. 12., um 20 Uhr sowie am 26.12., 18.30 Uhr
Wer fliegen will, muss bereit sein, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Abend ist, seiner Kürze zum Trotz – das Spektakel ist nach 90 Minuten vorbei –, auch fürs Publikum geradezu körperlich anstrengend: In andere Arbeiten hat Karabulut Momente des ausgesprochenen Stillstands eingebaut. Deren Schönheit besteht darin, dass sie das Vergehen der Zeit radikal bewusst machen, es erleben und erleiden lassen.
Auf solche Phasen des quälend konsequent ausgespielten Leerlaufs hat sie für „Franziska“ verzichtet: Zu stark ist der Antrieb der Titelfigur. In dem Prolog ist der bereits zum Programm erhoben: Er ist collagiert aus Reimen des Stücks und dessen erster Szene, aus deutschem Zitatenschatz, Aperçus aus den Schriften von Wedekinds Vorbild Franziska zu Reventlow und Eigenem. Sorel trägt ihn mit großartiger Verve vor.
„Für mich reicht es nicht“, ruft sie, frisiert wie Mireille Mathieu und mit einem von einer Kluges-Schulmädchen-Brille entstellten Gesicht in den Saal. „Ich will mehr!“ Dieser Drang, diese Sucht nach Genuss, diese Hetze, die sie sich selbst auferlegt, das ist ihr eigener Weg. Rastlos wie er ist auch die Aufführung. Auf ihm zu bleiben, ist das beste Ende, das Franziska finden kann. Das einzige. Und im Grunde ist auch das eine Art Hölle.
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