Die Wahrheit: TV total ist wieder da!
Dank „Wetten, dass..?“ und Konsorten: Linear geglotzt und in die Röhre geguckt wird ab jetzt und bis ans Ende aller Tage, bis der Doc kommt.
Auch in Woche zwei nach dem überraschenden Quotenerfolg der wiederaufgelegten Samstagabendshow „Wetten, dass..?“ verliert die Diskussion über eine Rückkehr des linearen Fernsehens nichts von ihrem begeisternden Schwung. Die dreieinhalbstündige Nostalgiesendung hatte mit Einschaltquoten von knapp 50 Prozent sämtliche Erwartungen übertroffen, die man an das angeblich todsieche Medium noch richtete.
Fernsehzuschauer, Programmverantwortliche und Feuilletonredakteure erkennen darin inzwischen ein Indiz für ein glorreiches Comeback der ehedem wichtigsten Freizeitaktivität der Deutschen: Das gute alte Glotzen ist offenkundig zurück.
ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler kündigte deshalb neben der Prüfung weiterer abgesetzter Formate an, eine Wiederaufnahme der Sendung ins reguläre Programmschema zu erwägen: „Hier hat einfach alles gestimmt! Eine mitreißende Kombination sämtlicher Vorzüge der Flimmerkiste ist auf ein komplett neues Publikum gestoßen und hat es elektrisiert wie Kinder, die zum ersten Mal in eine offene Steckdose fassen.“ Himmler nannte diese Erfahrung vieler, vor neugieriger Erregung bebenden Erst-TV-Konsumenten einen „heilsamen Schock“ und äußerte seine Hoffnung, einen großen Teil von ihnen demnächst als Stammzuschauer beim ZDF zu finden.
Voller Genuss
Medienforscher Thorsten Tillmann sekundierte ihm eine Woche später im Branchendienst TV News: „Das derzeit populäre Streaming erkennt zwar unsere Bedürfnisse. Aber ist es nicht langweilig, immer das zu bekommen, was man ohnehin will?“ In scharfem Kontrast dazu überrasche das lineare Fernsehen sein Publikum, brüskiere es, stoße es womöglich sogar vollends vor den Kopf. Dies jedenfalls hätten junge Leute, die von ihren Eltern und Großeltern unter Androhung von Smartphone-Verboten erstmals zum gemeinsamen „Wetten, dass..?“-Schauen gezwungen worden seien, bereits kurz nach Sendungsbeginn erstaunt festgestellt. Man müsse sich womöglich erst dran gewöhnen, ehe man es richtig genießen könne.
„Aber vielleicht“, fragte wie viele andere ein Redakteur des Internetportals Der Westen in Bezug auf die neuen Rezeptionsgewohnheiten, „konnte die exotische Sitte einer festen Einschaltzeit (20 Uhr 15) dieser spontanen und undisziplinierten Jugend etwas von der Faszination vermitteln, die für uns Ältere von Pünktlichkeit, Berechenbarkeit und seelenlosem Stumpfsinn ausgeht? Auf alle Fälle haben die Kids mal aus ihrer Bubble rausschauen können!“
Und zwar in eine viel größere, viel gleichgestricktere und damit vorbildlichere Gesellschaft hinein, die sich trotz ihrer altersbedingten Sorgen und Malaisen wie ein Kind über die putzigen Kunststücke kleiner Hunde oder betagter Nerds freuen kann – Hauptsache, es macht irgendwie gute Laune. Am meisten beeindruckt dürfte die neue Zuschauergeneration nach Meinung vieler Leitartikler allerdings vom ausgeruhten Umgang mit der Zeit gewesen sein, den die Show pflegte.
Dramaturgische Bögen
Teenies und Twens, die nur noch Youtube-Clips von einigen Minuten oder Tiktok-Schnipsel von wenigen Sekunden Länge kennen würden, hätten hier über unaufregende Stunden hinweg die Vorzüge einer großzügigen Zeitgestaltung und lang ausgespielter dramaturgischer Bögen vor Augen geführt bekommen. Die aber alle letztlich nur eines demonstrieren konnten: Sich an einem Samstagabend in einem zeitlichen Nirwana passiv berieseln lassen – das ist das Schönste von der ganzen Welt. Und an allen anderen Tagen ebenfalls prima.
Da konnten selbst überkritische Medienbeobachter nichts mehr dran ändern, die aus dem Bauch heraus behaupteten, dass die Hälfte der 13,8 Millionen Zuschauer die Sendung lediglich eingeschaltet hätte, um „sich darüber das Maul zu zerreißen“, die „Boomergeneration zu verlachen“ und „mal wieder gepflegt über so eine verfickte Opascheiße abkotzen zu können“.
Vor allem die jüngeren unter den Zuschauern, so wurde kolportiert, hätten aus ihrem Unmut in den sozialen Medien keinen Hehl gemacht. „Thomas Gottschalk muss sterben!“ lautete einer der meistfavorisierten Tweets der Woche, der immerhin eines bezeugte: Fernsehen gilt nun auch für das Twitter-Publikum wieder als respektabler Zeitvertreib – je kritischer, desto besser!
Der vertraute blaue Widerschein
Mit ein paar Tagen Abstand tritt die Zukunft also noch einmal klarer zutage: Immer mehr Familien sehen wieder gemeinsam fern, Singles und Hipster werden folgen. Dann beherrschen TV-Rezensionen jedes Medium, TV-Gespräche jede Pause, von früh bis spät summen die Empfangsgeräte, und aus sämtlichen Wohnzimmerfenstern dringt abends der vertraute blaue Widerschein der Bildschirme.
Ganz gleich, was die Apologeten und Profiteure des Internets einwenden mögen: Der kritische Diskurs simmert und kocht gelegentlich noch hoch, aber das Fernsehen ist mächtig zurück im Leben. Sogar rund um die Uhr. Denn den Sendeschluss gibt es nicht nur im Netz nicht mehr – Gott sei Dank.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Merz stellt Reform in Aussicht
Zarte Bewegung bei der Schuldenbremse
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung