Georgien vor den Kommunalwahlen: Georgischer Albtraum
Die Regierungspartei im georgischen Tiflis schert sich wenig um Demokratie. Die EU darf vor allem die jungen Menschen dort nicht im Stich lassen.
„Nazis, Hooligans, Verräter!“ Die Liste wüster Beschimpfungen, mit denen führende Vertreter*innen der georgischen Regierungspartei Georgischer Traum (KO) ihre politischen Gegner*innen derzeit verunglimpfen, ließe sich fortsetzen. Besonders Ministerpräsident Irakli Garibaschwili lässt seinen Hasstiraden freien Lauf. Den ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili, der seit dem 1. Oktober in Georgien im Gefängnis sitzt, verglich er mit Adolf Hitler. Aufmüpfigen Kommunen, die für eine/n Vertreter/in der Opposition stimmen sollten, drohte er offen mit pekuniärem Liebesentzug.
Am Sonntag gehen in der Südkaukasusrepublik die Kommunalwahlen in die zweite Runde. Zwar hat der KO im ersten Durchgang offiziellen Angaben zufolge mit 47 Prozent der Stimmen einen Großteil der Bürgermeisterposten und Sitze in den Gemeindevertretungen erobert. Doch jetzt geht es vor allem um fünf selbst verwaltete Städte – darunter die Hauptstadt Tiflis.
Dort hat die größte Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung (ENM) gute Chancen, das Rennen zu machen. Jene ENM ist es auch, die im Verbund mit mehreren Kleinstparteien die Kommunalwahl zu einem Referendum über die Regierung und deren Politik erklärt hat. Das alles spielt sich vor einer verschärften Polarisierung der Gesellschaft ab. Mit der Möglichkeit, dass das Land weiter destabilisiert werden könnte.
Wir schreiben das Jahr 2012 – genauer gesagt den 1. Oktober. Die KO des milliardenschweren Unternehmers Bidzina Iwanischwili verwies die ENM in die Opposition. Deren Gründer, der damalige Staatschef Saakaschwili, ein strikter Verfechter einer Annäherung an EU und Nato, erkannte die Niederlage an und emigrierte in die USA. Iwanischwili trat zwar ein Jahr später als Premier zurück, spielt jedoch bis heute eine maßgebliche Rolle in der Politik.
Von Rechtsstaatlichkeit verabschiedet
Nicht zuletzt dieser friedliche Machtwechsel infolge der Wahl, von der OSZE mit dem Gütesiegel frei und fair versehen, nährte Hoffnungen, dass eine demokratische Transformation gelingen könnte. Doch diese Zeiten sind vorbei – aus dem Georgischen Traum ist ein Albtraum geworden. Allein die vergangenen zwölf Monate bieten genügend Anschauungsmaterial dafür, dass sich der KO von Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat.
Dabei sind Zielscheibe dieses Feldzuges nicht nur oppositionelle Politiker*innen, sondern auch die Zivilgesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist. Jüngstes Beispiel: der Fall Michail Saakaschwili. Nach achtjähriger Abwesenheit und wegen Machtmissbrauchs zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, wurde der frühere Staatschef kurz nach seiner Einreise Anfang Oktober festgenommen. Es muss stark bezweifelt werden, dass ihm in Georgien ein fairer Prozess gemacht wird.
Politische Motive bei Festnahme
Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass hier aus politischen Motiven ein Exempel statuiert werden soll. Wie anders wäre die Äußerung von Regierungschef Garibaschwili zu verstehen, dass es gegen Saakaschwili, der seit Haftbeginn im Hungerstreik ist, weitere Anklagepunkte geben werde, sollte er sich nicht benehmen. Welche Folgen Ungehorsam haben kann, wissen auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zu berichten.
Ein Marsch der LGBTQ-Community im vergangenen Juli artete zu einer Jagd eines rechten Mobs auf die Teilnehmer*innen aus. Auch über 50 Journalist*innen wurden tätlich angegriffen, wenige Tage später erlag ein Kameramann seinen Verletzungen. Versammlungsfreiheit, Schutz von Minderheiten? Von wegen. Die Regierung gab den Veranstalter*innen die Schuld. Ob jemand von den Schlägertrupps zur Verantwortung gezogen wird? Nach den Erfahrungen der Vergangenheit zu urteilen, wohl kaum.
Einschüchterung und Drohungen
Auch die Begleitumstände der aktuellen Kommunalwahlen sprechen allen demokratischen Standards Hohn. Wähler*innen wurden eingeschüchtert, Mitarbeiter*innen von staatlichen Einrichtungen oder Organisationen, die staatliche Mittel erhalten, bei Androhung von Kündigung gezwungen, für den KO zu stimmen. Über 600 Bewerber*innen der Oppositionsparteien zogen aus Angst vor Repressionen ihre Kandidatur noch vor dem ersten Wahlgang zurück. Unternehmen, die den KO für den Wahlkampf großzügig mit Spenden bedacht hatten und mit Iwanischwili verbandelt sind, erhielten allein in diesem Jahr staatliche Aufträge im Wert von über 40 Millionen US-Dollar – wie Berichten von Transparency International zu entnehmen ist.
Dass der KO so agieren kann, ist auch dem Zustand der Justiz geschuldet. Denn trotz vollmundiger Ankündigungen der Machthaber lässt eine Reform, die über Kosmetik hinausgeht, auf sich warten. Beobachter*innen beschreiben die Situation vielmehr als „Klan-Herrschaft“ regierungstreuer Richter*innen. Diese werden in intransparenten Verfahren berufen und urteilen eher nach politischen Opportunitäten denn nach Gesetz und Recht.
Hoffnungen junger Menschen
Mittlerweile dämmert es auch der Europäischen Union, dass etwas gewaltig schiefläuft in Georgien. Ein weiterer Beweis dafür ist eine Vereinbarung vom 19. April 2021, die Brüssel zwischen Regierung und Opposition vermittelt hatte. Der Deal: die Ansetzung vorgezogener Parlamentswahlen, sollte die KO bei den Kommunalwahlen weniger als 43 Prozent der Stimmen erhalten. Wenige Wochen später stieg die KO aus. Klarer hätte Tiflis seine Geringschätzung gegenüber den angeblich so wichtigen westlichen Partnern nicht ausdrücken können.
Doch der KO ist nicht ganz Georgien. Vor allem viele junge Menschen setzen ihre Hoffnungen auf den Westen und stehen für Demokratie und Menschenrechte ein. Sie im Stich zu lassen wäre verantwortungslos und fahrlässig. Das gilt vor allem angesichts des Nachbarn Russland, der durch ständige Störfeuer seinen Einfluss und Zugriff auf Georgien auszubauen versucht, aber an soft power nichts anzubieten hat. Die EU muss ihre Georgien-Politik überdenken. Die Zeit drängt, und sie ist reif dafür.
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