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Spielzeitauftakt in OsnabrückAnfang ohne viel Zauber

Am Theater Osnabrück ist nun Ulrich Mokrusch Intendant. Zum Auftakt geht es um Alltagsrassismus, Machtmännlichkeit und Aus- und Einwanderung.

Faust als machttrunkener Filmproduzent: Simon Stephens „Fortune“ Foto: Joseph Ruben Heiks

Dass aus Verliebtheit Liebe zu einer Stadt wird, sich daraus aber schließlich nur noch gut eingespieltes Miteinander entwickelt: normal. Für Theaterintendanten ist das häufig der Moment, den Arbeitsplatz zu wechseln. Ralf Waldschmidt verließ nach zehn Jahren Osnabrück, um Chefdramaturg an der Staatsoper Hamburg zu werden. Ulrich Mokrusch verließ Bremerhaven nach elf Jahren, um Waldschmidt zu beerben.

An der Wesermündung war sein Start einst fulminant, weil er an vielen Orten mit Kooperationspartnern und lokalen Themen in die Stadt hineinspielen ließ, nebenher den Muff des Vorgängers wegwirbelte, ohne auf Musicals, Operetten und Opernklassiker zu verzichten. In den letzten Jahren aber verlor das Mokrusch-Theater an Dynamik, ruhte sich auf dem Erreichten aus und versuchte allzu häufig, Erfolgsstücke und -konzepte anderer Häusern zu reproduzieren.

Nun wieder Neustart. Das Haus in Osnabrück ist aber viel besser aufgestellt, als es das in Bremerhaven war. Waldschmidt setzte auf Ausgrabungen vergessener, selten gespielter zeitgenössischer Opern und Uraufführungen, genau dieser Leidenschaft frönt auch Mokrusch.

Auch an Waldschmidts findig-forsche Schauspielleitung knüpft Mokruschs Team an, setzt ebenfalls auf zeitgeistig virulente Erstaufführungen. Zur Saisoneröffnung stehen Alltagsrassismus, egomane Machtmännlichkeit und Aus-/Einwanderung auf dem Spielplan.

Durchstarten mit „1000 Serpentinen Angst“, dem autofiktionalen Roman Olivia Wenzels, der reichlich aktuelle Debatten vernetzt: Es geht um Klasse, Kolonialismus und Kapitalismus, Herkunft, Identitätspolitik, Rassismus- und Sexismus-Erfahrungen und die Suche von uns Wohlstandsprivilegierten nach einem anständigen Leben.

Politik des Guten

Die Struktur der Vorlage wird mit drei Schau­spie­le­r:in­nen in lockerer Szenenfolge aufgegriffen: Im Zentrum steht die Tochter einer ostdeutschen Punkerin und eines Angolaners, die nicht nur sexuell, sondern grundsätzlich nach ihrer Rolle in einer sozialen Wirklichkeit sucht, die sie als fremd stigmatisiert.

Anonyme Fra­ge­r:in­nen bringen die Protagonistin zum selbstvergewissernden Reden, Offenbaren, Empören, Nachdenken, Problematisieren: ein bissig reflektiertes Einüben, Widersprüche auszuhalten und sich Heimweh nach Heimat sowie Sehnsucht nach Muttersein nicht zu verbieten. Dazu platzen per kommentierter Diaschau Erinnerungen auf, von Begegnungen mit der Mutter, der einst SED-treuen, heute eine rechte Partei wählenden Oma sowie in nachgespielten Szenen fremdenfeindlicher Alltagsaggression, trotz Rollenwechselei stets aus der Ich-Perspektive der Erzählerin.

Sie sucht nach Positionierung zur eigenen Geschichte. Mal wird getanzt, meist aber nach vorn ins Publikum geplaudert. Etwa vom zwiespältigen Glück einer USA-Reise. Einerseits kann die Ich-Instanz des Abends den tief verankerten Rassismus dort nicht leugnen, fühlt sich andererseits aber schwärzer als in Deutschland und der PoC-Communitys zugehörig: öffentlich gemocht, gegrüßt, akzeptiert. Dort kann sie unbefangen eine Banane essen, sie nennt das „Freiheit“, in Deutschland würde sie dafür mit Affenlauten, Witzen über ihre bananenlose DDR-Vergangenheit oder Anzüglichkeiten übers Penislutschen bedacht.

Das Frage-Antwort-Spiel kommt in der Regie von Rebekka David leider kaum vom gewissenhaften Rekapitulieren des Textes zur forschen Auseinandersetzung damit. So ist der Abend eher ein gutes politisches denn überzeugend künstlerisches Statement.

Mit den Top-Mimen des Ensembles prunkt die zweite Premiere: „Fortune“ von Simon Stephens. Mit einer modernen „Faust“-Version soll Grundsätzliches verhandelt werden. Die Hauptfigur ist kein Wissenschaftler auf Erkenntnissuche mehr, sondern besitzt nur noch die negativen Eigenschaften von Goethes Geistesheroen. Faust heißt nun Fortune, ist erfolgreicher Filmregisseur und setzt auf das Streben nach Macht und prompte Bedürfnisbefriedigung.

Auch das verhuscht verklemmte Gretchen wird zeitgemäß zur emanzipierten Maggie, Filmproduzentin. Auf die ist Fortune geil. Teufel Lucy verschafft ihm die Frau, dazu Drogen, mehr Ruhm und Zauberkräfte zur Degradierung ungeliebter Kolleginnen. Fortune feiert seinen Omnipotenzwahn. Zwölf Jahre, so der Blutdeal, kann er leben, als gäbe es kein Morgen – dann muss er die Rechnung dafür zahlen.

Für Stephens ist Fortune damit ein Vertreter des modernen Menschen, der seine Möglichkeiten zu Wohlleben und Maximalkonsum zukunftsvergessen ausnutzt und dabei Ressourcen der Natur gnadenlos ausbeutet, den Klimawandel befeuert etc. Fortune zerstört „nur“ Menschen. Schlichter Lösungsvorschlag für alle: Einsicht hilft. Diese Appell-Dramatik kommt in Christian Schlüters Inszenierung fidel-präzise daher, wirkt aber für einen dreistündigen „Faust“-Abend doch recht dürftig.

Die nächsten Aufführungen

Nächste Aufführungen: „Fortune“: Fr, 31. 10., 15 Uhr, Theater am Domhof; „Fremde Erde“: So, 7. 11., 15 Uhr, Theater am Domhof; „1000 Serpentinen Angst“: Di, 9. 11., 19.30 Uhr, Emma-Theater

Hilft das Musiktheater? Mit verzweifelt wirbelnden, aufrührerisch brausenden, zärtlichen und klagenden Klängen ist „Fremde Erde“ die erste und einzige Oper des Franz-Schreker-Schülers Karol Rathaus: musikalisch ein Fest. Kaum ein expressiver Effekt der 1920er-Jahre-Musik, der nicht genutzt würde. Das Orchester überzeugt, das hauseigene Gesangsensemble beeindruckt, die Regie Jakob Peters-Messer widmet sich in schöner Klarheit dem Libretto, das vom Auswandern der verzweifelten Landbevölkerung Litauens erzählt.

Leider werden die Gründe der Flucht nach Übersee nicht thematisiert. Ebenfalls keine aktuellen Anknüpfungspunkte bietet die Überfahrt. Im fernen Chile finden die Geflüchteten Krankheit und Tod unter brutalkapitalistischen Arbeitsbedingungen in einer Salpetermine.

Aufbruch ohne Ecken und Kanten

Vor diesem Hintergrund lebt die machtmonströs auftrumpfende Ausbeuterin, Typ Operndiva, ihre Lust auf Jungs von ganz unten aus, verführt den sozialrevolutionären Semjin, obwohl er zu Beginn noch sagte, keine Ware zu sein. Aber Sex mit der Chefin und revoluzzen gegen sie, der Spagat klappt nicht. Semjin endet in der Gosse, sterben und sterben wollen ist angesagt. Große Oper – als bitter abgeschmecktes Rührstück, in dem die krankmachende Fremde und der antikapitalistische Impetus kaum mehr als eine emotionalisierende Folie abgeben.

Mokruschs Neustart ist bisher nicht wie in Bremerhaven von frecher Mitreißerei, Experimentierfreude, dramaturgischen Ecken und formalen Kanten gekennzeichnet, sondern vom souveränen Management des Anfangszaubers. Ein Aufbruch, der sich wie aufgefrischte Kontinuität anfühlt.

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