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Sollbruchstellen bei der KoalitionssucheHier müssen sie springen

Die Sondierungsgespräche laufen. Bei allen Parteien gibt es heikle Themen, an denen eine Koalition scheitern könnte. Eine Übersicht – samt Prognose.

A100 in Neukölln im Mai 2021 – sie könnte ein Stolperstein auf dem Weg zu einer Koalition sein Foto: picture alliance/dpa/Wolfgang Kumm

Berlin taz | Koalitionsverträge sind verschriftliche Kompromisse, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Denn auch wenn nicht alle so klare „rote Linien“ ziehen, wie es SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey im Wahlkampf mit Blick auf die Enteignung von Wohnungsunternehmen tat: Diese Hürden gibt es natürlich. Können sie wegverhandelt oder zumindest unter blumigen Formulierungen versteckt werden?

Schon im Wahlkampf war ein großer Streitpunkt das Thema Verkehr. Vor allem die Grünen drängen auf eine drastische Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs: Bis 2030 sollen keine Verbrenner mehr in der Innenstadt unterwegs sein, bis 2035 auch nicht mehr im Rest Berlins, steht im Wahlprogramm. Doch die E-Autos sollen nicht einfach die bisherigen ersetzen; es sollen deutlich weniger und der Platz für ÖPNV, Fahrräder und Fuß­gän­ge­r*in­nen genutzt werden.

Für die SPD ist das eine Art Kulturkampf gegen das Auto. „Wir sind überzeugt, dass ein Miteinander zwischen Auto und Rad […] der richtige Weg für die Zukunft ist“, heißt es im Wahlprogramm. Die letzten beiden Teile des Mobilitätsgesetzes, über die innerhalb von Rot-Rot-Grün bereits Einigkeit bestand, wurden von der SPD auf Druck von Giffey doch noch gekippt.

taz-Prognose: Das dürfte zu langen Staus führen.

Eng damit verbunden: der Ausbau der Stadtautobahn A 100. Vor zehn Jahren scheiterten daran – zumindest vordergründig – die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Grünen. Inzwischen hat sich auch die SPD eigentlich davon verabschiedet, den noch ausstehenden 17. Bauabschnitt bis tief nach Friedrichshain umsetzen zu wollen. Die Grünen möchten hingegen auch den gerade entstehenden Autobahnabschnitt wieder umgestalten. Ob das durchsetzbar ist?

taz-Progrose: Auf Autobahnen fährt niemand mehr ab.

Und schließlich der Streit zwischen Grünen und SPD um die U-Bahn. Letztere will sie ausbauen; Erstere sagen, das dauere zu lang, Tramausbau ginge schneller. Doch die grüne Verkehrssenatorin selbst hat im taz-Interview darauf hingewiesen, dass auch jede Tram ihre Zeit brauche und sie hat Machbarkeitsstudien für die U-Bahn vorgelegt.

taz-Prognose: Da kann man zweigleisig fahren.

Schon unter Rot-Rot-Grün hat sich die SPD mit harter Kritik an der Stadtentwicklungsverwaltung profiliert. Credo: Die Linke verweigere sich dem Neubau; Lösung: „bauen, bauen, bauen“. Zudem sind die Sozialdemokraten nie über den Verlust dieser Verwaltung hinweggekommen, mit der (und den Baumagnaten dieser Stadt) sie eng verwoben waren. Die Forderung, dass im nächsten Senat Bauen, am liebsten zusammen mit Verkehr, wieder in SPD-Hände kommt, steht schon länger im Raum. Es wäre ein Affront gegenüber der Linken und vor allem der Mietenbewegung.

taz-Prognose: Da wird wer auf Granit beißen.

Anschaulich wurde dieser Konflikt bei der erneuten Debatte um eine teilweise Bebauung des Tempelhofer Feldes, was nach dem Volksentscheid von 2014 ausgeschlossen ist. Die SPD will, CDU und FDP wollen auch, Grüne und Linke auf gar keinen Fall, auch aus Gründen des Klimaschutzes.

taz-Prognose: Hat das Potenzial zum Schlachtfeld.

Dann ist da natürlich noch der Enteignen-Volksentscheid selbst. Die Linke hat ihn unterstützt und bereits die Umsetzung, sprich ein Gesetz, gefordert; die Grünen wollen ihn als Druckmittel; die SPD ist dagegen. Von einer einheitlichen Linie kann also niemand sprechen. Andererseits: Ein solches Gesetz zu verfassen, dürfte locker ein bis drei Jährchen dauern und dann geht es vors Verfassungsgericht. In dieser Legislatur wird es damit wohl eher nichts.

taz-Prognose: Das wird ziemlich hart.

Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings die Frage nach den Gemeinsamkeiten, die in vielen Politikbereichen zwischen SPD, Linken und Grünen deutlich größer sind als zwischen SPD, CDU und FDP. Etwa bei Finanzen und Investitionen, einer zentralen Frage nach der Coronakrise. Auch das wird in die Berechnung einfließen, ob es zu einer Neuauflage von Rot-Grün-Rot kommen kann.

Der Text ist Teil eines vierseitigen Schwerpunktes zur Berlin-Wahl 2021 auf den taz berlin-Seiten der Print-Ausgabe der taz am wochenende vom 2./3. Oktober 2021.

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4 Kommentare

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  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Wir brauchen keinen Ausbau der Stadtautobahn A 100, denn mit den Pferdekutschen ist die Strecke eh zu lang.

  • Straßenbahn und U-Bahn "zweigleisig" auszubauen ist großer Unsinn, denn

    1. Neue U-Bahnbauten sind extrem klimaschädlich. Selbst bei optimistischer Betrachtung der Verlagerung von Autoverkehr kommt es erst nach ca. 100 Jahren zu einer schwarzen Null, was die CO₂-Emissionen betrifft.

    2. U-Bahnen kosten das zehnfache von Straßenbahnen. D.h. für jeden Kilometer U-Bahn können zehn Kilometer Straßenbahn nicht gebaut werden! Die Passagiertransportleistung der U-Bahn ist aber nur drei mal so hoch wie die der Tram, d.h. die Tram ist mehr als dreimal günstiger.

    3. Wir werden im Schnitt älter und sind schlechter zu Fuß! Straßenbahnhaltestellen haben kürzere Abstände und die Tram ist unmittelbar barrierefrei. Sie sind somit für alle, die schlecht zu Fuß sind oder einen Kinderwagen weitaus luxuriöser als U-Bahnen, bei denen man ewig auf den Aufzug warten muß, der noch dazu mit seiner Doppelfunktion als Urinal überfordert ist.

    4. Es geht beim Streit zwischen U-Bahn- und Straßenbahnbefürworter/inne/n eigentlich oft nur in zweiter Linie um das eigentliche Verkehrsmittel, sondern um die Frage: "Darf der ÖPNV mit den Autos um Oberfläche, also den Platz an der Sonne, konkurrieren? Oder sollen ÖPNV-Nutzer/innen gefälligst unter die Erde verbracht werden?"

    Ein Ausbau der U-Bahn sollte für Grüne und Linke ein absolutes No-Go sein, ebenso wie ein Weiterbau der A100 oder das Horrorprojekt TVO.

    • 8G
      83379 (Profil gelöscht)
      @Toto Barig:

      1. Stimmt vermutlich, kenne mich da nicht aus, klingt aber logisch

      2. Siehe punkt 1.

      3. Das ließe sich mit einem Strafregiment wie in Singapur lösen, da sind die sauber und niemand käme auf solche Ideen.

      4. Die Straßen braucht man auch weiterhin für Feuerwehr, Krankenwagen und Lieferverkehr, ja wenn es weniger Autos gibt, gibt es auch da weniger Konkurrenz aber die U-Bahn muss nicht mit anderen Verkehrsmitteln konkurrieren und wird auch nicht von einem liege gebliebenen LKW blockiert.

      5. Außerdem ist sie leiser für die Anwohner und kann schneller fahren. Ich denke eine zweigleisige Strategie ist nicht dumm, wenn man die U-Bahn auf längere Strecken im urbanen Gebiet beschränkt, während die Tram den Nahverkehr bedient.

    • @Toto Barig:

      Die entscheidenden Argumente gut auf den Punkt gebracht. Allerdings müssen der Fairness halber zwei Argumente pro U-Bahn erwähnt werden:



      (1) Die Geschwindigkeit. In der Gesamtabwägung aus meiner Sicht aber nachrangig, denn auch bei der Geschwindigkeit sind häufige Takte und bessere Anschlüsse wichtiger als die reine Liniengeschwindigkeit.



      (2) Sicherheit / Unfallgefahr. Punktsieg für die U-Bahn. Die Tram kann auf eigenem Gleisbett aber nachziehen.