Flüchtende auf Samos: Hinter Stacheldraht
Die EU lässt ein gefängnisartiges Lager auf der griechischen Insel Samos errichten. Flüchtende fürchten, zu Gefangenen zu werden.
![ein Polizeiauto patrolliert an einem mit Stacheldrah eingezäuntem Gelände ein Polizeiauto patrolliert an einem mit Stacheldrah eingezäuntem Gelände](https://taz.de/picture/5157743/14/28440096-1.jpeg)
W ährend Sie diesen Text lesen, werden auf der griechischen Insel Samos Menschen in ein neues Lager für Asylsuchende gebracht. Viele von ihnen gegen ihren Willen. Dieses gefängnisähnliche Lager liegt sehr abgelegen an einem Ort namens Zervou, ist mit Stacheldraht umzäunt und einem modernen Überwachungssystem ausgestattet. Millionen Euro wurden für den Bau des Lagers ausgegeben.
All das, um Menschen festzuhalten, deren einziges Verbrechen darin besteht, in der Europäischen Union Schutz und Stabilität zu suchen. Menschen, die auf diese Weise stattdessen nur weiter erniedrigt und ausgegrenzt werden. Genau wie die massenweise Ablehnung von Asylanträgen wird dieses neue Lager so zum Symbol für die völlige Ablehnung von Geflüchteten und ihrem Recht, Asyl zu suchen. Seit Monaten schon haben unsere Patient*innen auf Samos Angst davor, in dem neuen Lager eingesperrt zu werden.
Sie fühlen sich hilflos und völlig auf sich allein gestellt. Für Menschen, die Folter durchlebt haben, bedeuten die strengen Kontrollen im Lager nicht nur einen Verlust von Freiheit. Sie können die Menschen auch retraumatisieren. Die meisten unserer Patient*innen haben Symptome von Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen.
Rund zwei Drittel der Patient*innen, die von April bis August zum ersten Mal in unsere Klinik für psychische Gesundheit kamen, brachten Selbstmordgedanken zum Ausdruck. 14 Prozent waren akut suizidgefährdet. Das sind schockierende Zahlen. Diese Menschen leiden unmittelbar unter der sich immer weiter verschärfenden europäischen Migrationspolitik. Als Psychologinnen erleben wir täglich mit, wie sich ihr psychischer und physischer Zustand immer weiter verschlechtert.
Die Eröffnung des neuen Lagers macht etwas mit der kollektiven Identität der Geflüchteten, mit ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Würde: Europa bricht diese Menschen. Was sollen wir einem jungen Mann sagen, der, obwohl er nie ein Verbrechen begangen hat, in einem gefängnisähnlichen Lager eingesperrt ist? Einer unserer Patienten ist ein 19-Jähriger aus Mali, der bereits seit zwei Jahren auf Samos festsitzt. Vor einigen Jahren hat er seine Heimat verlassen, weil er dort gefoltert wurde.
Erst Geflüchteter – jetzt Gefangener
Er kam nach Europa mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Sicherheit. Inzwischen ist er extrem verzweifelt und stellt seine Existenz in Frage. Die Angst vor dem neuen Lager hat in ihm bereits eine Reihe von psycho-emotionalen Reaktionen ausgelöst. Wie lange kann er sich noch vorstellen, all diesen Schmerz und diese Frustration zu ertragen? Als wir ihn fragen, was er sich wünscht, lautet seine Antwort: „Meine Freiheit. Bis jetzt war ich ein Geflüchteter, jetzt werde ich ein Gefangener sein.“
Die Ungewissheit, der mangelnde Schutz und die völlige Missachtung menschlichen Lebens werfen Fragen auf, auf die die griechischen und europäischen Behörden keine Antwort geben, und dies nicht erst seit gestern. Patient*innen auf den griechischen Inseln berichten uns seit Jahren, wie sie unter der dauerhaften Belastung leiden. Sie leben unter schwersten Bedingungen.
Dazu gehören komplizierte Behördenvorgänge und Asylprozeduren, eine andauernde Unsicherheit, Gewalt, die Trennung von Angehörigen und Kinder, die nicht in die Schule gehen können sowie eine mangelnde Gesundheitsversorgung. Felicite (Name geändert) ist seit Februar 2021 Patientin in unserer psychiatrischen Klinik. Sie hat weibliche Genitalverstümmelung, eine Zwangsheirat im Alter von 14 Jahren und über viele Jahre extreme sexualisierte und körperliche Gewalt durch ihren 30 Jahre älteren Ehemann überlebt.
Schwere Traumata
Sie wurde Opfer von Menschenhändlern und befindet sich seit zwei Jahren auf Samos. Ihr Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus wurde bereits zweimal abgelehnt. Das bedeutet, dass sie keinen Zugang zu den grundlegenden Dienstleistungen im Lager hat, zum Beispiel zur Nahrungsmittelversorgung. Seit vier Monaten wartet sie nun auf eine neue Entscheidung ihres Asylantrags. „Werde ich verhungern?“ Diese Frage stellt sie sich mit gutem Grund.
Für Menschen, die einer derart gewalttätigen Migrationspolitik ausgesetzt sind, bedeutet die Eröffnung dieses neuen Lagers ein Ende: das Ende eines Sinns zu leben, das Ende ihrer Geduld, das Ende der rudimentären Freiheit, die sie hatten, das Ende jeder Möglichkeit, an Aktivitäten eines normalen Lebens teilzunehmen, wie zum Beispiel mit ihren Kindern am Strand oder auf dem Marktplatz spazieren zu gehen oder in dem Supermarkt in der Stadt einzukaufen.
Wir schämen uns für Europa und die Werte, die es vorgibt zu haben, die für unsere Patient*innen hier auf Samos aber nicht zu gelten scheinen. Wie einfach wäre es, diese Situation zu ändern und dem Leben von Hunderten Menschen, die in Europa internationalen Schutz suchen, einen neuen Sinn zu geben? Es bräuchte den politischen Willen und die Achtung der Menschenwürde. Europa und Griechenland müssten für menschenwürdige Alternativen zu den Lagern sorgen.
Sie müssten den Zugang zu einem fairen Asylverfahren ermöglichen und eine Gesundheitsversorgung sicherstellen, die auf die Bedürfnisse von Menschen, die vor Gewalt, Konflikten und Traumata fliehen, zugeschnitten ist. Dann könnten wir unseren Patient*innen auch wirklich helfen. Jeden Tag vertrauen uns die Menschen hier ihre Geschichten an. Wir bewundern sie für ihre Widerstandsfähigkeit. Wir sind da, um ihnen einen sicheren Ort zu bieten.
Wir sind da, damit sie sich bei uns anlehnen und mit uns ihre Ängste über vergangenes und befürchtetes Leid teilen können. Aber solange die Politik, die dieses Leid verursacht hat, nicht aufhört, werden wir diesen Menschen nicht wirklich helfen können. Wir werden einfach hier bleiben und ihnen dabei helfen zu überleben. Nicht zu leben und zu heilen. Zu überleben, mehr nicht.
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