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Mein Prenzlauer Berg! Ode an den Kiez

Eigenbedarf, Verdrängung, Mietsteigerungen – unserer Autorin wurde übel mitgespielt. Warum sie den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, bis heute dennoch liebt

Von Simone Schmollack

Wann habe ich zum letzten Mal einen Schwabenwitz gehört? Keine Ahnung. Seit wann mir im Bioladen dieses „2 Dinkelweckle bitte“ so locker über die Lippen geht wie einst „2 Schrippen“, habe ich auch vergessen. Und noch nie war ich in meinem Kiez in einem schwäbischen Restaurant – es gibt nämlich keins. Was sagt das alles aus über einen Bezirk, der im Verruf steht, ein schwäbisches Dorf zu sein?

In Prenzlauer Berg (es heißt „in“ und nicht „im“ oder – noch schlimmer – „auf“ dem Prenzlauer Berg) lauert man diesem beeindruckenden schwäbischen Gesabbel heute meist vergeblich auf, mittlerweile hört man auf der Straße vor allem Englisch, Spanisch und Russisch. Diese Internationalität und Vielfalt gehört zur Lebensqualität im Kiez. Jaja, rauen jetzt sicher die Bescheidwisser:innen: Wieder nur diese elitäre weiße Oberschicht, die sich einbildet, hip zu sein. Wohnen kann zwischen Kollwitz- und Helmholtzplatz doch ohnehin nur, wer eine Eigentumswohnung oder ein saumäßig gutes Einkommen hat.

Stimmt. Die Zahl an People of Color ist übersichtlich. Und ja, stimmt auch, das viel beschriebene und noch öfter geschmähte Bionade-Biedermeier-Wohlbehagen ist teuer erkauft. Hier wohnt man tatsächlich vor allem im Eigentum (in der Regel gekauft vom Geld der Eltern) oder zur Miete mit unverschämter Miete. Oder aber – das gibt es eben auch noch – in einer Genossenschaft (ohne Fluktuation), in schönstem Altbau und günstigem Altmietvertrag (auch keine Fluktuation) oder im Haus eines sozialen Vermieters (Fluktuation? Was ist das?).

Ich gehöre zu den wenigen mit dem großen Glück der drei letztgenannten Optionen. Und weiß es mehr als zu schätzen. Denn ich kenne auch die andere Seite. Die der Verdrängung, der Wut auf Dachgeschossausbau, Mietsteigerung, Klagen auf Eigenbedarf. Bislang wurde ich aus jeder meiner Wohnungen rausgentrifiziert, jedem Umzug waren schwindelerregende Mietsteigerungen vorausgegangen. Der Rest – Mietermobbing, hektische Wohnungssuche, Leben auf Baustellen – soll hier unerzählt bleiben.

Und trotzdem – Achtung, ab hier wird’s pathetisch – liebe ich diesen Kiez. Ich wohne hier nicht nur, ich lebe hier. Und das schon mein Leben lang. Ich wurde hier geboren. Ich habe hier den Großteil meiner Kindheit verbracht. Ich habe hier in den 80er Jahren eine Wohnung besetzt (das ging in der DDR, war nur gefährlicher als zur selben Zeit in Kreuzberg). Hier wurde nach der Wende meine Tochter geboren und groß.

Dieser Kiez ist mein Zuhause – wieder Triggerwarnung: noch mehr Pathos – und meine Heimat. Wenn man so eng wie ich mit Prenzlauer Berg verbunden ist, kennt man hier nicht nur alle veganen Restaurants und chinesischen Kitas, jede Hebammenpraxis und jeden Yogaladen. Sondern eben auch jene Ecken, die die Moderne noch nicht um die Ecke gebracht hat. Die nach wie vor so Rock’n’ Roll sind wie das, wofür Prenzlauer Berg einst stand.

Es gibt sie nämlich noch, die Menschen, die dieses hippe Schickimickitum unbeeindruckt lässt: die Sozialarbeiterin, die in ihrer Wohnung ein Ganzkörperenthaarungsstudio für Transsexuelle betreibt. Die Männer-WG, die jeden Abend gemeinsam kocht und die Nachbarn zum Essen einlädt. Den älteren Herrn, der jeden Morgen auf demselben Treppen­absatz sitzt und Kaffee trinkt. Den Mann mit Tourettesyndrom, der flucht, was das Zeug hält, sobald er auf die Straße tritt. Man kennt ihn hier, man respektiert ihn.

Prenzlauer Berg, das darf an dieser Stelle ganz untheatralisch diagnostiziert werden, mag zwar eine arrivierte Spießerhölle sein (von mir aus), aber eben mit Restbeständen der einstigen Rotzigkeit. Und mit einer Lebensqualität, die weiß Gott nicht jeder Kiez mit weitaus weniger Bürgerlichkeit und Beschaulichkeit zu bieten hat. Egal, wo man auf die Straße tritt und nach links oder rechts geht, es ist alles da, was den Alltag leicht und beschwinglich macht: Kinos, Restaurants, Cafés, Bioläden, türkische Gemüsehändler, Spätkioske, Bäcker. Sport- und Nagelstudios, Massagesalons, Tischtennisplatten, ein Stadion.

Nicht dass ich alles regelmäßig nutze, und schon gar nicht täglich, doch es ist ein Angebot an Zuverlässigkeiten, die ich nicht missen möchte. Ich wage zu behaupten, meine Mitmenschen auch nicht.

Vor ein paar Jahren pendelte ich mehrfach in der Woche in eine Ecke der Stadt, von der damals behauptet wurde, sie sei „viel cooler“ und „viel hipper“ als mein „schwäbisches Dorf“. Der Kiez käme nämlich gänzlich ohne dieses arrivierte Großbürgerliche aus. Was soll ich sagen? Ich habe mich noch nie so unlebendig gefühlt wie dort. Kurz nach sechs Uhr am Abend huschten höchstens ein paar alte Damen mit frisch frisierten Pudeln um die Ecke, die nächste Bar lag einen Fußmarsch weit weg, die nächste Kneipe ähnelte einer Nahkampfdiele.

Apropos schwäbisches Dorf. Als ich neulich wegen einer Wirbelfraktur nur liegen oder laufen durfte, spazierte ich noch häufiger durch die Straßen als zu den härtesten Coronalockdown-Zeiten. Gefühlt alle einhundert Meter traf ich jemanden, die oder den ich kannte. Alle, wirklich alle, fragten mich, ob sie für mich einkaufen könnten, etwas tragen oder mir die Schuhe zubinden. Wie auf dem Dorf. Nur viel schöner.

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